Trugschluss
tagelang Messungen vorgenommen. Allerdings nicht, wie Georg Sander,
der Journalist der Geislinger Zeitung, damals den Leiter der zuständigen
Abteilung zitierte, »weil bereits allerlei abenteuerliche Gerüchte über geheime
Waffen im Umlauf sind, die mit tiefen Frequenzen die Psyche des Menschen
beeinflussen sollen, sondern weil diese Institution über entsprechend sensible
Messgeräte verfügt.«
Brobeil saß in seinem kleinen
Dachboden-Büro seines Häuschens, das er sich am Ortsrand von Ehingen an der
Donau gebaut hatte. Der Garten war naturbelassen, Efeu rankte an Holzwänden
empor, im Frühjahr würden hier wieder viele Krokusse und Forsythien blühen.
Hier, wo die Alb von der Donau begrenzt wurde, war das Klima nicht mehr so rau
wie droben auf der Hochfläche.
Das braune zersauste Haar Brobeils wirkte
noch wilder, als sonst. Seit er nicht mehr offiziell seelsorgerisch tätig war,
brauchte er auch nicht mehr aufs Äußere zu achten. Manchmal vergaß er sich zu
rasieren, weil ihn ein Thema, mit dem er sich intensiv befasste, völlig in
seinen Bann zog.
Bei seinen Nachforschungen im Internet war
er zum ersten Mal auf die Bezeichnung ›HAARP‹ gestoßen – offenbar ein
gigantisches Projekt, das die Amerikaner angeblich in Alaska aufgebaut hatten.
Die Militärs, so las Brobeil am Computer-Bildschirm, hätten dort die größte und
leistungsfähigste Funkwellenstation aller Zeiten installiert. ›HAARP‹ stand
demnach für ›High Altitude Auroral Research Programme.‹ Brobeil nahm einen
Schluck Wasser und las geradezu gierig weiter. Es werde vermutet, hieß es da,
dass mit Hilfe der Ionosphäre extrem langwellige Radiowellen zur Kommunikation
mit U-Booten und zur Erkundung unterirdischer Strukturen um den Erdball
geschickt würden. Gegner des Projekts, und davon gab’s offenbar viele,
befürchteten sogar Auswirkungen auf das Wettergeschehen.
Brobeil stützte den Kopf mit den Händen,
die Arme über der Tastatur abgewinkelt. Zwischendurch machte er sich Notizen.
In Berlin, am Flughaften Tempelhof, so behauptete der Verfasser eines anderen
Berichts, stehe eine geheimnisvolle Funkanlage, eine abgeschirmte und streng
bewachte Kugel, die offenbar nichts mit dem Flugverkehr zu tun habe. Vermutlich
sei sie Bestandteil eines höchst geheimen Projekts der Militärs, insbesondere
der USA.
Fast zwei Stunden hatte sich Brobeil in
die Internet-Texte vertieft und gar nicht bemerkt, wie es draußen dunkel
geworden war und von der noch jungen Donau ein sanfter Nebelschleier
herüberzog.
Erst der elektronische Ton des Telefons
holte den Theologen wieder in die Realität zurück. Das Mobilteil des Apparats
lag irgendwo vergraben zwischen unzähligen Notizblättern. Er wühlte sich mit
der rechten Hand durch und griff sich das Gerät. Die Stimme, die sich meldete,
kannte er inzwischen. Es war Lilo Neumann, die Frau seines Bergfreundes aus
Steinenkirch.
»Jörg«, hörte er sie im Flüsterton sagen, »Jörg…«
Sie brach ab.
Brobeil war mit einem Mal aus den Tiefen
seiner Recherchen gerissen. »Hallo, hallo«, rief er in den Hörer und sprang
auf.
Stille. Er hörte nur den schnellen Atem
der Frau und lauschte. Sekunden vergingen. »Lilo«, schrie er jetzt wesentlich
lauter und ging zum Fenster, von dem aus er die dunklen Umrisse der umliegenden
Hügel sah.
Dann endlich wieder eine Antwort,
flüsternd, ängstlich, panisch: »Sie haben mich bedroht.«
29
August Häberle hatte an diesem späten November-Nachmittag vor dem
Wochenende Überstunden gemacht und noch einmal die Akte von dem unbekannten
Toten studiert, der vor fast vier Jahren bei Hohenstadt aufgefunden worden war.
Dass er dies tat, lag an einem Telefongespräch, das ihn am gestrigen Abend
daheim erreicht hatte. Ein pensionierter Beamter des Verfassungsschutzes hatte,
wie dieser mehrfach betonte, rein privat angerufen, weil sie sich doch seit
langem kannten. Häberle war erfreut, wieder einmal die Stimme seines Kollegen
zu hören.
Als der Kriminalist noch selbst in
Stuttgart gearbeitet hatte, war zwischen den beiden vorübergehend sogar ein
freundschaftliches Verhältnis entstanden. Das bröckelte jedoch, als sich
Häberle wieder für die Provinz entschieden hatte. Jetzt war der
Verfassungsschützer, der irgendwo bei Mannheim wohnte, bereits seit einem Jahr
in Pension.
Erst jetzt hatte er über einige Umwege
Sanders Artikel in die Hände bekommen, den dieser vor einem dreiviertel Jahr
über den ungeklärt gebliebenen Hohenstadter Fall geschrieben hatte.
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