Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
lange Pause. Sie war so lang, dass ich schon meinte, Michael wäre es genug und er wollte das Gespräch an dieser Stelle abbrechen. Dann, leise, flüsternd, kaum verständlich:
„Ich hätte mich nie vor Jordy oder irgendjemanden ausziehen können. Er hätte mich verachtet. Er hätte sich geekelt. Er hätte mich nicht mehr gemocht.“
Mein Herz stockte. „Oh, Gott“, dachte ich, „oh, Gott, Michael, bitte nicht...“
„Ich war so hässlich“, flüsterte er. „Ich mochte mich nicht ungeschminkt sehen, geschweige denn zeigen. Meine Hautkrankheit war auf dem Höhepunkt, was hieß: Flecken überall. Zu dieser Zeit brauchte ich noch volles Makeup. Die Menschen sahen ein Produkt kosmetischer Kunst, aber sie sahen nicht mich. Sie hätten mich abgelehnt...alles an mir, auch meine Musik. Nie hätte ich mich nackt vor irgendjemandem zeigen können. Ich ging in dieser Zeit nicht einmal barfuß.“
Meine Stimme klang heiser:
„Aber Mike...wenn Jordy dich so mochte...wenn er ein echter Freund war...meinst du nicht, es wäre ihm egal gewesen, wie deine Haut aussieht?“
Michael schwieg sehr, sehr lange auf diese Frage.
„Weißt du“, sagte er dann und räusperte sich öfters, weil seine Stimme nicht weiterwollte, „er hat...ich bin...einmal...da...“
Wieder verstummte er. Unsere Blicke trafen sich. Dann murmelte er, verlegen, verschämt, als ob es gestern passiert wäre:
„Eines Morgens kam ich aus der Dusche...mit dem Handtuch um die Hüften. Ich wusste nicht, dass Jordy im Zimmer war... ich schwöre...ich wusste es nicht! Das Handtuch verhakte sich am Türgriff und fiel runter und ich stand für eine Sekunde nackt vor ihm.“
Im Bruchteil dieser Sekunde registrierte Michael nicht nur, dass der Junge ihn anstarrte, er registrierte auch die Art seines Blickes. Mit einem Aufschrei raffte er das Handtuch vor seinen Unterleib und rannte ins Bad zurück, die Entschuldigungsrufe Jordys im Ohr. Und dessen undefinierbaren Blick, die leicht gekräuselten Lippen, unwiderruflich ins Gehirn gebrannt. Ein Blick, der ihn an eine Flughafenbegebenheit erinnerte. Es machte ihn krank, diesen Ausdruck in Jordys Gesicht zu sehen.
„Ich hätte nie Sex mit ihm haben können, ich hatte Angst, Jordy zu verlieren“, wisperte Michael. „Und ich verlor ihn. Aber ganz anders, als ich mir das in meinen schlimmsten Träumen je hätte vorstellen können.“
***
„Er hat den Jungen auf dem Schoß“, sagte der Bodyguard in sein Mikro und bewegte kaum die Lippen beim Sprechen.
„Sag ihm, er soll das verdammt noch mal lassen!“, schimpfte die Stimme aus dem Headset. „Verdammt, verdammt, verdammt – er wird gefilmt! Wo ist die Mutter?“
„Sitzt daneben.”
Pause.
„Lass dir ein paar hübsche Worte einfallen. Der Bengel soll sich zu seiner Mutter setzen!“
Sie standen kurz vor Beginn der Fahrt zum Event. Michael saß auf dem breiten Rücksitz eines Rolls mit Übergröße und offenen Fenstern, Jordy auf den Beinen, June und Lily daneben. Mit seinem massigen Körper versuchte der Bodyguard den Kameras der Paparazzi so gut wie möglich die Sicht zu versperren.
„Mr. Jackson“, sagte er zu Michael, „wir würden es begrüßen, wenn Jordy neben seiner Mutter sitzt. Die Presse könnte auf falsche Gedanken kommen.“
June sah Michael an. Der war gerade abgelenkt gewesen und hatte die Ansage nicht mitbekommen.
„Michael!“, sagte June und berührte sein Bein. Michael sah auf. Der Bodyguard sah ihn an.
„Mr. Jackson, ich hab Jones in der Leitung... er meint... Moment... er sagt noch was... bitte warten Sie kurz.“
Der Bodyguard lauschte in sein Headset. Er traute seinen Ohren nicht.
„Lass den Bengel da, wo er ist“, hörte er, „Michael soll ihn gut festhalten...wir fahren los. Ist eh schon zu spät.“
Die Paparazzi knipsten. Das Blitzlichtgewitter schien nicht zu enden: Jordy im Auto auf Michaels Schoß. Beim Award in der vordersten Reihe, neben Prinz Albert von Monaco, auf Michaels Schoß. Lily saß auch sehr oft auf Michaels Schoß – davon wurden keine Bilder veröffentlicht, wenn überhaupt welche gemacht wurden.
Als Evan die Fotos in der Zeitung sah, machte es Klick in ihm. Es konnte nicht sein, dass sie ihn so was von daneben stehen ließen. Er hatte nichts, rein gar nichts von der Verbindung zu Jackson! Und es konnte nicht sein, dass sein Sohn auf dem Schoß von einem anderen saß. Einem, der den Vorteil hatte, ihm alles bieten zu können.
XX / 1993 Europa
„Alles ist eine Frage der Interpretation.
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