Try hard to love me / Versuch doch, mich zu lieben (German Edition)
Tastatur. Die alten Berichte über ihn zu lesen hatte richtig Freude gemacht. Er schien ein Mensch mit Werten zu sein, der keine Drogen nahm, nicht rauchte, nicht trank, sich extrem gesund ernährte, diszipliniert, höflich und schüchtern war, nicht herumhurte, keine Reporter schlug, sich offen für Welthilfe, für Kinder einsetzte...es war alles so perfekt. Er war das Vorbild schlechthin, der Ritter in der Rüstung, und es passte zu ihm. Er wirkte authentisch, man nahm ihm diese Gesinnung ab. Dennoch änderte sich die Art der Berichterstattung nach seinem so unglaublichen Erfolg mit Thriller so drastisch und blieb so hartnäckig negativ, vor allem so uniform negativ, dass ich mich eines unguten Gefühls nicht erwehren konnte. Es war einfach da und ich las die weiteren Berichte mit gemischten Gefühlen.
Mit dem verdienten Geld kaufte er sich 1985 den ATV-Katalog, die Rechte an den Beatles- und Little-Richard Songs und vielen mehr. Seine Geschäfte liefen hervorragend, er gründete eine Kinder-Hilfs-Organisation und erwarb eine Ranch, die elf Quadratkilometer groß war und auf der er sich gönnte, was ihm als Kind versagt geblieben war. Sie wurde sein Refugium und der Hauptgrund, es zu kaufen, war die wunderbare Natur des St.Ynez-Tals gewesen.
Noch nie hatte jemand in der Musikwelt diese Größenordnungen aufgebaut und die Tatsache, dass er keine ursprünglich weiße Hautfarbe hatte, machte die Sache brisant. Er war der erste Afroamerikaner in dieser Erfolgsgröße.
Doch ab hier schien sich der Schnitt abzuzeichnen, ein Einbruch. Das wäre an sich auch normal, denn jeder weiß, dass nach einem Hoch ein Tief folgt. Doch Michael hatte keinen kreativen Einbruch, wie so viele in der Branche – im Gegenteil. Er schöpfte aus seinen Quellen, die unendlich zu sein schienen. Ideen strömten in Wasserfall-Manier auf ihn ein. Und doch konnte man nach dem zweiten Album etwas Zerstörerisches fühlen, als ob sein Erfolg einen ebenso mächtigen Gegenspieler heraufbeschworen hätte.
Die Frage, die sich mir an dieser Stelle aufdrängte, war, inwieweit sich Michael mit diesem Heroismus identifiziert hatte und wie groß die Gefahr war, dass sich dadurch ein zu hoher Anspruch an sich selbst entwickelte.
Er produzierte in einem Zeitraum von vier Jahren seine dritte CD, BAD, die sich nicht ganz so gut wie die zweite verkaufte, sich aber dennoch in schwindelerregenden Höhen hielt. Michael aber war am Boden zerstört- er hatte eine Steigerung von Thriller erwartet und konnte nicht fassen, dass er sein Ziel nicht erreicht hatte. Die Reportagen in Amerika verglichen zudem die Anfangsverkäufe mit den sich immer noch steigernden Verkäufen von Thriller und werteten BAD ab.
Die Masse der Boulevard-Blätter schrieb wenig über seine Musik. Sie mokierte sich über die Zahl der Nieten auf seinem Lederoutfit, die Farbwahl seines Lippenstiftes, über seinen Schimpansen und seinen Zoo auf Neverland...all das schien fatal zu sein. Vielleicht taten sie es, mutmaßte ich an dieser Stelle, weil es keine Affären gab, kein Getändel mit Frauen. Außer ein paar für die Öffentlichkeit inszenierten Tete á Tetes mit Brooke Shields und Madonna, schien es überhaupt keine Frau in seinem Leben zu geben. Ich klickte Videoaufnahmen auf youtube aus dieser Zeit an.
Wenn auch in der Öffentlichkeit die Schüchternheit überwog, wirkte er dennoch charismatisch und voller Esprit. Aussagen von ihm aus dieser Zeit bestätigten ein für mich interessantes Phänomen: Er schien klar zu trennen zwischen dem, was auf der Bühne stattfand und seiner eigentlichen Person. Er konnte nicht wirklich verstehen, warum ihn die Menschen nach der Vorstellung so anstarrten.
„Auf was schauen sie?“, wunderte er sich. Als ob ohne seine Performance nichts mehr da sei, was es zu bewundern galt. Oder: Als ob die Instanz, die diese so perfekt machte, nicht mehr präsent sei.
Ich sah mir seinen Auftritt beim Superbowl an, der eine Klasse für sich war, sah die Schönheit seiner Bewegungen, wie entspannt er mit den Massen umging und vor allem, wie wohl er sich inmitten einer Kinderschar bei der Schlussnummer fühlte.
Ich sah, wie er in Krankenhäuser ging, nach Indien, Äthiopien, Afrika, in die ärmsten Gegenden zu furchtbar schmutzigen und blutig gekratzten Kindern. Wie hatte eigentlich dieses Gerücht mit der krankhaften Angst vor Bakterien bestehen können, wenn es zeitgleich solche Bilder gab? Hatten wir alle kein Hirn? Oder schalteten wir es ab, wenn wir Schlagzeilen
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