TS 53: Alle Zeit der Welt, Teil 1
zurückwich.
Kedre Waltons zornsprühende Augen blickten ihn an. Ihre schwarzen Haare ringelten sich wie die Locken der Medusa um ihren Kopf. Offenbar hatte sie sich mit jemand im Hintergrund unterhalten, während sie darauf wartete, daß Sam sich meldete. Ihr Zorn schien ihm nicht allein zu gelten, aber ihre Worte straften diesen Eindruck Lügen.
„Du bist ein Narr, Sam!“ fuhr sie ihn übergangslos an.
Die Gelassenheit war aus ihrem feingezeichneten, hochmütigen Gesicht verschwunden. Selbst der Hochmut hatte sich verloren.
„Hast du wirklich geglaubt, du könntest ungestraft den Erfolg einheimsen?“
„Das glaube ich immer noch“, antwortete Sam. Er beurteilte die Aussichten seiner Pläne sehr zuversichtlich.
„Du Hanswurst, du hast noch nie einem Unsterblichen die Stirn geboten. Unsere Mühlen mahlen langsam, aber um so sicherer. Du konntest doch nicht im Ernst annehmen, Zacharias Harker würde sich mit deinem Vorgehen tatenlos abfinden. Er wird dich …“
„Laß mich reden, Kedre“, warf eine Stimme hinter ihr ein. Dann tauchte das kalte, jugendliche Gesicht Zacharias Harkers auf dem Schirm auf. Mit einem abschätzenden Blick musterte er Sam.
„Ich schulde Ihnen in gewissem Sinne Dank, Reed“, sagte er. „Sie waren gerissen und legten mehr Fälligkeiten an den Tag, als ich erwartet hätte. Die Kraftprobe mit Ihnen hat mir unvorhergesehenes Vergnügen bereitet. Zudem haben Sie mir ermöglicht, Hales ehrgeizigem Vorhaben ein für allemal einen Riegel vorzuschieben. Dafür möchte ich Ihnen gleichfalls danken, denn ich bin gern gerecht, sofern ich mir das leisten kann.“
In den Augen Harkers lag ein derart unpersönlicher Ausdruck, daß Sam fröstelte. Diese Augen sahen ihn so gleichgültig an, als wäre er überhaupt nicht vorhanden – als wäre alles Leben aus ihm gewichen und Harker spräche zu einem Leichnam.
In diesem Augenblick überfiel Sam Reed die Erkenntnis, daß Harker womöglich von Anfang an in dem Wissen gehandelt hatte, daß Sam ihn hintergehen, sich auf Hales Seite schlagen und dann auch Hale betrügen würde. Sam bildete das einzige schwache Glied in Hales Plänen. An ihm konnte das Siedlungsprojekt scheitern, wenn irgend jemand Argwohn schöpfte. Bis zu dieser Sekunde hatte Sam in der Überzeugung gelebt, sich nach allen Seiten gedeckt zu haben.
Zacharias Harker aber hatte ihn durchschaut.
„Leben Sie wohl, Reed“, sagte die Stimme des Unsterblichen. „Kedre, falls du …“
Kedres Züge zeichneten sich von neuem auf dem Schirm ab. Immer noch verrieten ihre Züge ihre Erbitterung. Aber diese Erbitterung erlosch, als ihr halbverschleierter Blick den Augen Sams begegnete. Tränen rollten über ihre Wimpern.
„Leb wohl, Sam“, murmelte sie. „Leb wohl.“
Ihr Blick glitt an ihm vorbei.
Sam konnte sich gerade noch umdrehen. Seine Augen weiteten sich, aber seine abwehrende Bewegung kam zu spät. Rosathe stand unmittelbar hinter ihm. Ihre scharfen Fingernägel, die eben noch die Saiten der Harfe gezupft hatten, schlitzten die winzige Kapsel auf, die das Vergessen barg.
Der furchtbare, süßliche Duft des Staubes drang beizend in Sams Nase. Hilflos taumelte er vorwärts. Seine Hände griffen nach Rosathe, um sie zu erwürgen. Aber sie schwebte von ihm weg. Der Raum begann um ihn zu kreisen, und Rosathe blickte aus unermeßlicher Höhe auf ihn herunter. Auch in ihren Augen standen Tränen.
Der Wohlgeruch des Traumstaubs löschte alles andere aus. Traumstaub – das einschläfernde Betäubungsmittel, dessen sich die Selbstmörder bedienten.
Als letztes gewahrte er die tränennassen Augen der beiden Frauen, die weinten, weil sie ihn liebten, und die gemeinsam sein Verhängnis heraufbeschworen hatten.
15.
Sam Reed erwachte. Der Duft parfümierten Staubes wich aus seiner Nase. Dunkelheit umgab ihn. Er spürte eine Mauer neben sich, raffte sich auf und stützte sich dagegen. In einiger Entfernung schimmerten verschwommene Lichter. Eine Gasse, dachte er. Ab und zu kamen auf der Straße Leute vorbei.
Seine Füße schmerzten, und seine Schuhe schlappten. Sam blickte an sich herunter und sah, daß er Lumpen trug. Seine bloßen Füße ragten durch die zerrissenen Sohlen. Die Luft um ihn roch immer noch nach Traumstaub.
Auf Traumstaub folgte ein langer, langer Schlaf. Wie lange hatte seine Betäubung gedauert?
Er stolperte zur Einmündung der Gasse. Ein Passant warf ihm einen neugierigen, verächtlichen Blick zu. Sam packte den Mann am Kragen.
„Die Siedlung“,
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