TS 61: Der Mann mit dem dritten Auge
er sich aber gegen unangenehme Fragen abkapseln. Die violett leuchtende Barriere wurde wieder deutlich erkennbar. Die Stadt lag unter dieser unheimlichen Strahlenglocke gefangen und würde wahrscheinlich für alle Zeiten gefangen bleiben, wenn nicht …
Slade schüttelte sich unwillkürlich. Er war wahrscheinlich in das merkwürdigste Abenteuer verwickelt, das je ein Mensch erlebt hatte. Er war doch nur ein Durchschnittsmensch. Was unterschied ihn von all den anderen Menschen, die diese zweite Welt nicht sehen konnten?
Er war in einem der westlichen Staaten Nordamerikas aufgewachsen, hatte eine normale Entwicklung durchgemacht und war schließlich ein erfolgreicher Makler geworden. Nun aber war alles so schrecklich verändert und furchtbar kompliziert. Er befand sich in einer dunklen, dem Untergang geweihten Stadt und sollte eine Aufgabe erfüllen, der er sich nicht gewachsen fühlte.
Und doch war er nicht auf einem anderen Planeten, sondern nur auf einer anderen Existenzebene, in einer kurz vorher noch unbekannten Dimension. Er konnte diese Tatsache trotz der nicht wegzuleugnenden Beweise nicht fassen und zweifelte mitunter an seinem Verstand. Er konnte diese Welt nur sehen und erleben, weil er ein drittes Auge hatte.
War dieses dritte Auge nun ein Segen oder ein Fluch? Slade blickte das Mädchen an und war in diesem Augenblick recht froh über das besondere Auge. Amor war schön – und wahrscheinlich war ihr die Liebe noch unbekannt. Slade hoffte es, denn er fühlte sich von ihr angezogen. Sie hatte Eigenschaften, die ihn entsetzten, aber ihr reizvoller Körper wog diese negativen Eigenschaften tausendfach auf.
Er war sich seiner Gefühle aber nicht ganz sicher. Seit seiner Trennung von Miriam hatte er die Frauen gemieden. Vielleicht war die lange Einsamkeit für seine plötzlich auflodernden Gefühle verantwortlich zu machen. Er stellte fest, daß er recht häufig an Amor dachte. Schon während der Stadtbesichtigung war ihm das aufgefallen, und er hatte sich keine Mühe gegeben, die aufkeimende Leidenschaft niederzuhalten. Wenn er nun wirklich für immer in dieser Welt blieb, würde er eine Frau heiraten. Warum nicht Amor? Möglicherweise gab es in dieser Welt noch mehr und vielleicht noch schönere Frauen, aber die waren weit weg, und Amor war ständig in seiner Nähe.
Er sprach das im Dunkeln stehende Mädchen an, aber sie schien ihn nicht zu hören, denn sie antwortete nicht.
„Was wirst du später machen, Amor?“ fragte er leise.
Amor schreckte aus ihren Gedanken auf. „Ich werde in einer Höhle leben, so wie alle anderen auch.“
Slade wurde durch diese Antwort ein wenig aus dem Konzept gebracht. „Warum wollt ihr in Höhlen leben?“ fragte er verständnislos. Er konnte nicht verstehen, warum diese Leute freiwillig auf eine noch tiefere Stufe hinabsteigen wollten. Er ging aber nicht darauf ein, denn er wollte ja um Amor werben. Sie entzog sich ihm aber. Sie sagte kein Wort, aber Slade spürte, wie sich eine Mauer zwischen ihnen aufbaute.
„Was ist los, Amor?“ fragte er leise. „Kann ich dir irgendwie helfen? Ich spüre, daß dich etwas bedrückt. Was ist es?“
Amor zögerte. Mehrmals setzte sie zum Sprechen an, hielt aber immer wieder inne. Slade wartete geduldig, denn er ahnte, daß sie ein Geständnis zu machen hatte.
„Du wirst es nicht verstehen können und mich vielleicht verachten, aber …“
„Aber was?“
„Ich habe früher auch Blut getrunken.“
Dieses Geständnis war überraschend, denn Amor war gegen die Bettler nicht gerade nachsichtig vorgegangen, aber Slade hatte nach ihrem langen Zögern eigentlich Schlimmeres erwartet. Trotzdem konnte er sich eines leisen Unbehagens nicht erwehren.
„Caldra hat früher auch Blut getrunken. Alle haben es getan ohne Ausnahme. Es war eine furchtbare Zeit.“
Slade brauchte einige Zeit, um dieses Geständnis zu verarbeiten und leckte sich die plötzlich trocken gewordenen Lippen. Amor verfolgte offenbar eine bestimmte Absicht. Es ging ihr sicher nicht allein um das Geständnis, dessen war Slade sich sicher.
„Die Entwöhnung war sehr schwer“, fuhr Amor fort. „Ich habe es trotz aller Rückfälle geschafft. Lange Zeit konnte ich der Versuchung widerstehen – bis heute.“ Ihre Stimme sank zu einem fast unverständlichen Flüstern herab. „Du hast starkes, gesundes Blut, Slade. Du bist für mich eine ständige Versuchung.“
Slade erkannte ganz plötzlich, auf was sie hinaus wollte. Er dachte an die bettelnden Frauen und
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