TS 61: Der Mann mit dem dritten Auge
Männer – und an die unbarmherzig durch die Luft sausende Peitsche. Jetzt begriff er ihren Haß, ihre unvorstellbare Wut. Sie hatte nicht nur die Bettler geschlagen, sondern gleichzeitig gegen ihr eigenes Verlangen angekämpft. Sie hatte ihre Gefühle lediglich kompensiert.
„Du kannst dir nicht vorstellen, wie erschrocken wir über deine Nachricht waren“, sagte Amor leise. „Caldra und ich hatten gehofft, daß der Angriff schon heute nacht stattfinden würde. Das bedeutet, daß du noch einen weiteren Tag bleiben mußt. Für uns ist das eine furchtbare Qual. Ich verstehe auch nicht, warum Leear uns das antut. Sie kennt unsere Lage doch ganz genau.“
Wenige Minuten vor dem Geständnis hatte Slade fast Liebe für dieses Mädchen empfunden, nun fühlte er sich jedoch abgestoßen. Ihm war furchtbar elend zumute, aber er empfand auch ein wenig Mitleid für Amor.
„Willst du etwas von meinem Blut haben?“ fragte er fast gegen seinen Willen.
„Nur ein kleines bißchen!“ flehte das Mädchen. Eine furchtbare Übelkeit sprang Slade an. Der Klang ihrer Stimme unterschied sich kaum noch von dem Gewimmer der Bettler.
Er fühlte sich jedoch nicht berechtigt, zornig zu werden oder ihr seine Verachtung zu zeigen. Die vorangegangenen Erlebnisse hatten ihn schon mürbe gemacht und seinen Widerstand gegen diese irrsinnige Welt erheblich verringert. Er dachte schon nicht mehr wie ein normaler Mensch und konnte beinahe Verständnis für das unheimliche Verlangen nach Blut aufbringen. Trotzdem war er maßlos erschüttert. Wenn Caldra ihn um Blut gebeten hätte, wäre das etwas anderes gewesen; es hätte ihn nicht so tief berührt.
„Und du hast heute morgen die Bettler geschlagen!“ stieß er rauh hervor.
Es war so dunkel, daß er sie nicht sehen konnte, aber er hörte ihren Seufzer. Seine Anklage mußte auf Amor wie ein Peitschenschlag gewirkt haben, denn das Mädchen sagte nichts mehr. Sie drehte sich um, tastete sich durch den Raum und verschwand in ihrem Zimmer.
Slade machte sich Vorwürfe. Er hätte nicht so rauh sein dürfen. Amor hatte gewiß einen starken Charakter. Mit ihrem Verzicht hatte sie es ja auch deutlich bewiesen. Vielleicht lag die Schuld nicht einmal bei ihr, sondern bei ihm selbst? Was wußte er denn schon von diesen Menschen und ihrem anscheinend überwältigenden Verlangen nach Blut. Eine lange Nacht lag vor ihm. Er wußte, daß es keine angenehme Nacht sein würde.
5.
Slade lag schon seit Stunden im Bett und konnte keine Ruhe finden. Immer wieder mußte er an Amor denken. Er hatte ihr gegenüber unfair gehandelt und sie roh zurückgestoßen. Sie hatte ihn in der ersten Nacht in das sichere Haus geholt und somit seinetwegen eine große Gefahr auf sich genommen. Auch während der Stadtbesichtigung war sie sein Schutzengel gewesen. Ohne ihre Unterstützung hätten die Bettler ihn wahrscheinlich überfallen. Warum sollte er ihr nicht ein wenig von seinem Blut geben? Immerhin hatte sie erfolgreich gegen das Verlangen angekämpft. Sie und die übrigen Anhänger ihrer Gruppe waren die willensstärksten Menschen in dieser phantastischen Stadt. Der Blutdurst war wahrscheinlich einer der Hauptgründe des Niederganges von Naze. Ein so starkes, unstillbares Verlangen, eine solche Sucht mußte ja die Moral der Bevölkerung untergraben.
Amor und ihre Freunde mußten schwere innere Kämpfe durchgestanden haben. Hatte er, Michael Slade, überhaupt das Recht, den ersten Stein auf sie zu werfen? War er wirklich so rein, daß er mit Verachtung auf die armen Süchtigen blicken durfte?
Er war in diese Welt eingedrungen und hatte mit seinem starken Blut ein neues Verlangen verursacht. Er trug die Hauptschuld an Amors Rückfall. Es spielte dabei überhaupt keine Rolle, daß er praktisch gegen seinen Willen nach Naze gekommen war. Die Bewohner von Naze spürten irgendwie, daß sein Blut noch frisch war. Sie schienen einen Instinkt dafür zu haben und konnten anscheinend nicht gegen diesen Instinkt ankämpfen. Wenn sie es doch taten, hatte das sicher große seelische und körperliche Qualen zur Folge.
Der erste Schock war vorüber, und Slade konnte wieder klar denken. Schon am nächsten Morgen wollte er Amor und Caldra ein wenig von seinem Blut geben. Dann würde er sich aber fortmachen, diese unheimliche Stadt mit ihren nicht weniger unheimlichen Bewohnern verlassen und in seine gewohnte Umgebung zurückkehren. Diese zweite, für normale Menschen nicht sichtbare Welt war eine Hölle, ein phantastischer
Weitere Kostenlose Bücher