TS 61: Der Mann mit dem dritten Auge
Alptraum.
Mitternacht war bereits vorbei. Slade stellte erleichtert fest, daß er die ersten vierundzwanzig Stunden überlebt hatte. Er war aber nicht auf die andere Existenzebene zurückgebracht worden, wie er es erwartet hatte. Er hatte gehofft, daß Leear ihn nach vierundzwanzig Stunden wieder in die andere, normale Welt zurückbefördern würde.
Ganz in der Nähe war das Plateau, wo er seinen Wagen abgestellt hatte. Er hatte die Gegend ja nicht verlassen, sondern war durch einen geheimnisvollen Trick in eine andere Dimension versetzt worden. Diese fremde Welt war vorhanden, aber nur für den, der sie sehen konnte. Das merkwürdige grelle Licht hatte sein Sehzentrum beeinflußt und seinen Blick für die normale Welt getrübt.
Warum hatte Leear eine bestimmte Zeit erwähnt, wenn sie damit nichts Besonderes sagen wollte? Slade grübelte unablässig und fiel dabei in einen unruhigen Halbschlaf.
Plötzlich schreckte er auf. Er blieb still liegen und lauschte angestrengt in die Dunkelheit hinein. Irgend jemand war in seinem Zimmer.
Er lag starr in seinem Bett und wagte kaum zu atmen. Die uralte, instinktive Furcht vor der Dunkelheit sprang ihn an und lähmte seine Reaktionen. Seine Augen sahen einen vagen, durch das Zimmer schleichenden Schatten.
Nach dem Schatten zu urteilen, mußte der Eindringling eine Frau sein. Amor! durchfuhr es ihn. Er empfand ein unendliches Mitleid mit ihr. Armes Mädchen! dachte er. Wie furchtbar muß dieses Verlangen sein.
Er konnte diese Sucht fast verstehen, hatte er doch selbst mit dem Gedanken gespielt, einen Schluck aus einer jener chemisch behandelten Schüsseln zu trinken. Der Gedanke war ihm zwar nur kurz gekommen und er hatte ihn schnell wieder verworfen, aber er konnte sich nun recht gut vorstellen, was in Amor vorging. Er war ein normaler Mensch und wollte es bleiben. Er konnte es sich einfach nicht leisten, aus bloßer Neugier in die Fänge einer furchtbaren Sucht zu geraten.
Auf keinen Fall wollte er Amor das Blut verweigern. Sie brauchte es ihm nicht heimlich abzunehmen, denn er wollte es ihr freiwillig geben. Er wollte sich aufrichten, doch zu seinem Erstaunen gelang ihm das nicht. Breite Riemen hielten ihn fest an das Bett gefesselt.
Diese Methoden gefielen ihm ganz und gar nicht. Er wurde nervös und unwillig. Seine anfängliche Bereitschaft schlug augenblicklich in das Gegenteil um. Amor tat ihm außerordentlich leid, aber er war nicht bereit, sich wie ein Opferlamm ans Bett fesseln zu lassen.
Er wollte seinem Unwillen Ausdruck geben, schwieg dann aber doch. Sollte sie sein Blut haben. Wenn die Sucht sie zu solchen Methoden verleitete, konnte sie wahrscheinlich noch gefährlicher werden. Immerhin war er gefesselt und konnte sich nicht wehren. Wahrscheinlich war es besser, sich ruhig zu verhalten und sie gar nicht merken zu lassen, daß er wach lag und alles bewußt miterlebte.
Slade sagte also nichts und starrte in die Dunkelheit. Am Morgen würde er so tun, als hätte sich nichts ereignet. Einen besseren Ausweg wußte er nicht. Er war auch ganz zufrieden, daß er auf diese Art und Weise Amor und sich peinliche Minuten ersparen konnte.
Der Schatten glitt langsam durch das Zimmer. Das Mädchen schien keine Eile zu haben und sich ihrer Sache völlig sicher zu sein. Slade wurde langsam ungeduldig; die Ungewißheit zerrte an seinen Nerven. Gerade als er die Geduld verlieren wollte, spürte er im linken Arm einen Nadelstich. Er sah eine Hand und eine im schwachen Licht glänzende Spritze. Die Nadel war trotz der Dunkelheit genau in die Vene gestochen worden. Slade konnte nicht anders, als diese Geschicklichkeit zu bewundern.
Es vergingen endlos scheinende Sekunden. Noch immer wurde Blut aus seiner Vene gesaugt. Ganz plötzlich wurde ihm das Unangenehme seiner Situation bewußt.
„Ist das nicht schon genug?“ fragte er leise.
*
Die Nadel blieb noch einige Zeit in seiner Vene stecken. Erst nach einigen Sekunden wurde sie plötzlich herausgerissen. Die Zeit, die seit seinen Worten und der Reaktion vergangen war, ließ Slade endlich den wahren Sachverhalt erkennen. Das durch das kleine Fenster in den Raum fallende violette Licht war nur sehr schwach, aber Slade konnte die noch immer auf seinem Arm ruhende Hand erkennen.
Es war eine Frauenhand, darin hatte er sich nicht getäuscht, aber es war nicht Amors Hand. Er hatte sich in eine Wunschvorstellung hineingesteigert, er hatte ein Opfer bringen wollen und sich deshalb nicht gewehrt. Er hatte stets nur an
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