TS 72: Das Erbe von Hiroshima
heute Geburtstag, mein Kind. Aber kommt nicht zu spät wieder. Im vorigen Jahr war es bereits dunkel, als ihr Ann gefesselt und geknebelt zurückbrachtet. Sie wäre uns bald erstickt.“
„Machen wir heute nicht mehr“, beruhigte ihn Jerry großmütig. „Wir sind ja schließlich schon fast erwachsene Männer und wissen, was sich Damen gegenüber gehört.“
Er verneigte sich wie ein spanischer Grande und versuchte mit einigen Kratzfüßen rückwärts die Tür zu erreichen. Fast wäre er über die Schwelle gestolpert, aber Tom hielt ihn fest. Ann lachte laut und folgte den beiden Jungen. Draußen hörte man sie wieder das Indianergeschrei ausstoßen, das sich allmählich in der Ferne verlor. Dazwischen klang das fröhliche und helle Lachen Anns.
„Eine erstaunliche kleine Gesellschaft“, wandte sich Marry an Mira. „Sie verstehen sich gut, unsere Kinder.“
„Bin nur gespannt, wie lange noch“, warf Bill ein. „Bis jetzt gerieten die Jungen immer noch aneinander, wenn ein Mädchen mit ihnen spielte. Jeder wollte sie zu seiner Squaw machen und niemand gab nach. Ann wird sich für einen von ihnen entscheiden müssen“, fügte er lachend hinzu.
Inzwischen erreichten die drei Kinder den See. Über bewachsene Feldwege waren sie den sanften Hügel hinaufgestiegen, der auf der anderen Seite das seichte Ufer bildete. Etwa zehn Meter vom Wasser entfernt störte ein gelblicher Erdhaufen das anmutige Bild der Landschaft. Ann betrachtete ihn skeptisch.
„Wer hat denn da im Dreck gewühlt? Das sieht aber nicht gerade schön aus.“
Tom und Jerry sahen sich verwundert an, dann meinte Tom:
„Keine Art der Aufrüstung ist schön zu nennen – das sagte unser Daddy auch. Wenn der Wall erst mal mit Gras bewachsen ist, wirst du anders darüber denken.“
Ann blieb stehen.
„Du willst doch nicht etwa damit sagen, daß der Haufen dort eure Festung ist? Och – die habe ich mir aber anders vorgestellt. Wo sind denn die Mauern und Zinnen?“
„Diese Weiber!“ schüttelte Jerry fassungslos den Kopf. „Was die alles von uns Männern verlangen!“
„Ein Dach wird auch noch gebaut“, erklärte Tom, als sie auf dem Lehmwall standen und in das rechteckige Verlies starrten. „Wenn es regnet, können wir dann hier in aller Ruhe den Feind erwarten. Selbst Lebensmittelvorräte werden wir anlegen, damit man uns nicht aushungert …“
„Welchen Feind erwartet ihr denn?“ wollte Ann wissen. „Gibt es denn bei euch noch Indianer?“
„Massenhaft“, entgegnete Jerry und tat ganz so, als erlege er täglich zwei Dutzend Rothäute. „Ihr Stadtmenschen habt ja keine Ahnung, was in der Wildnis alles passiert.“
Ann wart ängstliche Blicke in Richtung der nicht weit entfernten Uferbüsche. Ihr Mut verringerte sich zusehends. Aber Tom beruhigte sie:
„Du brauchst keine Angst zu haben, Ann. Heute droht keine Gefahr, weil du Geburtstag hast. Kommt, setzen wir uns in die Burg.“
Das Loch bot ihnen gerade genug Raum, daß sie eng aneinander gedrängt auf zwei Bänken sitzen konnten.
Jerry begann zu erzählen. Er kam dabei vom Hundertsten ins Tausendste und log das Blaue vom Himmel herunter, so daß selbst Tom nach einer geraumen Weile einen Seufzer ausstieß und meinte:
„Nun höre aber auf; sie glaubt es sonst noch.“
Doch Jerry tat so, als sei er mit Ann allein.
„Und dann bekamen wir zum Geburtstag noch eine elektrische Eisenbahn, aber so eine, wie sie niemand auf der ganzen Welt hat. Die Schienen reichen für alle Zimmer. Und die Lok – einfach Klasse! Sie zieht fünfzehn Wagen, wenn es sein muß. Wir werden heute mit ihr spielen, nicht wahr? Du hast doch Lust?“
„Heute abend?“ murrte Ann. „Da müssen wir doch ins Bett.“
„Unsinn! Wir haben doch Ferien, da dürfen alle Kinder länger aufbleiben. Außerdem ist dein Geburtstag. Ja, das tun wir! Los, Tom! Dann müssen wir aber gleich mit dem Aufbauen beginnen, damit wir fertig werden.“
Die Burg schien plötzlich sein Interesse völlig verloren zu haben, aber Anns Frage brachte ihn doch außer Fassung. Sie wandte sich nämlich an Tom.
„Nicht wahr, ihr habt gar keine Eisenbahn? Das hat Jerry auch nur geschwindelt, so wie alles andere.“
Doch Tom nickte, ohne seinen Stolz zu verbergen.
„Und ob wir eine haben, Ann!“
Jerry sprang auf und kletterte aus der Burg, gefolgt von den anderen.
Sie schlugen ein schnelles Tempo ein und erregten in der Farm ein nicht geringes Aufsehen, weil sie ohne Lärm und viel Geschrei – und dazu noch
Weitere Kostenlose Bücher