TS 72: Das Erbe von Hiroshima
einträchtig – in den Hof einmarschierten.
Erst als sie in der Haustür standen, drehte Tom sich um.
„Wir bauen die Eisenbahn auf“, verkündete er. „Ann will nicht glauben, daß wir eine richtige elektrische Eisenbahn haben.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwanden die drei.
Bob wandte sich an seinen Schwager.
„Ann hat sich immer schon für technische Dinge interessiert“, stellte er fest. „Es wird ihr Freude machen, mit den Jungen zu spielen. Genügt dein Stromerzeuger, die Bahn zu betreiben?“
„Meist, aber nicht immer. Wenn es dunkel wird und wir die Lichter einschalten müssen, wird die Lok streiken. Allzusehr können wir das Stromnetz natürlich nicht belasten. Besonders heute nicht, wo kaum ein Lüftchen weht. Ich schätze, sie werden die Lok so gerade zum Schleichen bringen – wenn überhaupt.“
„Das wäre schade“, bedauerte Bob ehrlich. „Ich weiß, daß Ann dann untröstlich sein wird.“
Er sah hinauf zu dem großen Windrad, das sich nur noch träge bewegte.
Im ersten Stock hatte sich inzwischen ein reges Treiben entwickelt, und es sah so aus, als wollte man die Wohnung ausräumen und auf einen Umzug vorbereiten. Tische und Stühle wurden beiseitegerückt, Schränke verschoben und der Bücherschrank seines Inhaltes beraubt. Die Teppiche wurden in einer Ecke unter der Treppe zum Dachboden zusammengerollt. Die Bücher dienten zur Errichtung mehrerer unregelmäßiger Türme, die – wie Jerry immer wieder eifrig versicherte – als Unterlage späterer Schienenbrücken zu betrachten seien.
Nachdem also sämtliche Hindernisse beseitigt waren, konnte mit dem Aufbau der sagenhaften Bahn begonnen werden, die vom Zimmer der Vettern durch den Flur in das Arbeitszimmer Onkel Bills und wieder zurück führen sollte. Die Schienen wurden ausgepackt und fachgemäß zusammengeschoben. Jerry übernahm das Legen der Strecke, von den Ratschlägen und Wünschen Anns mehr oder weniger unterstützt. Tom baute die einzelnen Bahnstationen an der Strecke auf und machte sich dann mit besonderer Inbrunst daran, bunte Indianerfiguren hinter künstlichen Büschen, Bücherstapeln und Schrankbeinen in den Hinterhalt zu legen.
Anns Sonntagskleid sah bereits aus, als habe sie es seit drei Wochen ununterbrochen an und auch darin geschlafen. In ihren Augen leuchtete die Begeisterung über das neue und ihr unbekannte Spiel. Sicher, Mabels Bruder besaß auch eine elektrische Eisenbahn, aber die Schienen reichten gerade, einen kleinen Kreis zu bilden, auf dem die Lok mit den drei Wagen langweilig dahinkroch. Da war Toms und Jerrys Eisenbahn schon etwas anderes.
Und die Brüder waren sich dessen sehr wohl bewußt.
„So eine Bahn hat niemand auf der Welt“, wiederholte Jerry seine Behauptung.
Ann nickte gläubig.
„Wie kommt es eigentlich, daß sie läuft?“ fragte sie.
Jerry setzte sich aufrecht hin. Seine Füße waren unter dem Leib verschränkt, und mit dem Rücken lehnte er gegen den Schreibtisch des Vaters.
„Das weißt du nicht?“ wunderte er sich. „Wir haben es aber in der Schule gelernt. Sie läuft mit Elektrizität.“
„Was ist das?“
Jerry machte ein wichtiges Gesicht.
„Elektrizität ist eine Kraft, die – eine Kraft, die aus Wasser entsteht …“
„Unsinn!“ mischte Tom sich ein. „Wasser treibt Turbinen an, und dann erst entsteht Elektrizität.“
„Ist ja auch egal“, wehrte Ann allzu komplizierte Erklärungsversuche ab. „Ich will ja nur wissen, warum sie damit läuft.“
„Warum?“ machte Tom und schien zu überlegen. „Warum – das weiß ich eigentlich auch nicht. Du, Jerry?“
Der Bruder machte eine vage Geste.
„Ich weiß es schon, aber es wird für Ann zu kompliziert sein. Sie würde es jetzt doch nicht verstehen.“
Er legte einen neuen Schienenstrang quer über eine wilde Schlucht, die von zwei Bücherstapeln gebildet wurde. Tom hatte endlich den richtigen Hinterhalt für seine Indianer gefunden und vollendete sein dramatisches Werk, das noch viel aufregende Kämpfe versprach. Er sah auf.
„Bei uns aber wird Elektrizität nicht von Wasser, sondern durch Wind gemacht. Unter dem Windrad ist ein Kasten, in dem sich ein Dynamo befindet. Das hat Vater selbst gesagt.“
Ann war es egal, wo der Strom herkam, der die Bahn antrieb, für sie war nur wichtig, daß die Schienen bald lagen, damit das Spiel beginnen konnte.
Dreißig Minuten später war es soweit, und die Lok setzte sich ohne ihre Wagen langsam in Bewegung und kroch den ersten Berg hinan, um
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