TS 72: Das Erbe von Hiroshima
dann – schneller werdend – auf der anderen Seite wieder hinabzurollen.
Tom sah aus dem Fenster.
„Das Rad dreht sich kaum. Schneller wird sie nicht laufen. Und wenn sie unten das Licht aufdrehen, ist es ganz aus.“
„Wir haben bei uns so viel Elektrizizi … so viel Strom, wie wir wollen“, behauptete Ann enttäuscht. „Er hört nie auf.“
„Bei uns eben nicht“, sagte Jerry ärgerlich. „Wenn kein Wind geht, haben wir auch keinen Strom, und die Bahn läuft nicht. Doch es reicht ja, wenigstens die Lok laufen zu lassen. Spielen wir eben nur mit der Lok.“
Und das wurde ganz amüsant – auch ohne die Wagen.
Der Ruf zum Essen unterbrach das Spiel. Aber erst als Onkel Bill unten das Licht einschaltete und die Lok prompt mitten in der Fahrt stoppte, weil der notwendige Strom abgezapft wurde, entschloß man sich zum Aufbruch.
Ann war bereits vorausgeeilt, denn ihre Lieblingsspeise, süß eingemachte Früchte und Pudding, machten selbst die schönste Eisenbahn zu einem unwichtigen Nichts.
Morgen blieb noch genug Zeit.
*
Dieser neue Morgen brachte für die Kinder zunächst eine Enttäuschung. Noch bevor die Zwillinge sich entschließen konnten, aus dem Bett zu steigen, stürzte Ann mit wehendem Nachthemd zu ihnen herein.
„Das elektrische Rad steht still, weil kein Wind weht. Wir können heute nicht spielen.“
Jerry zog die Decke bis zum Kinn hoch.
„Vielleicht ist nach dem Frühstück Wind“, hoffte er, „Und nun verschwinde, wir wollen aufstehen.“
Aber auch nach dem Frühstück war kein Wind. Nicht der leiseste Hauch regte sich, und das Rad stand still, als sei es an dem Mast mit Nägeln angeschlagen. Die Zwillinge machten sich nicht viel aus diesem Umstand; da die Eisenbahn nichts Neues für sie war, ertrugen sie die Enttäuschung ungleich leichter als Ann.
Als Bob Britten vom Angeln zurückkehrte, brachte er einige kleinere Fische mit, die seiner Geduld zum Opfer gefallen waren.
„Komme ich zu spät?“ erkundigte er sich, als er am Tisch Platz nahm, nachdem er seine Beute pflichtgemäß in der Küche abgeliefert hatte. „Ich hätte noch stundenlang angeln können. Es wird heiß heute.“
„Und kein Wind!“ warf Ann maulend ein.
„Wenn ich mich nicht täusche, gibt es heute noch ein Gewitter“, prophezeite Onkel Bill. „Hoffentlich regnet es nicht wieder so wie im Juli. Wir dachten damals, die Farm würde überschwemmt.“
Ann lauschte noch eine Weile den Reden der Erwachsenen, dann fragte sie, ob sie aufstehen dürfe. Ohne sich um die Zwillinge zu kümmern, stürmte sie nach draußen, um erneut festzustellen, daß kein Wind aufgekommen war.
Resigniert machte Ann kehrt und ging ins Haus zurück. Auf der Diele begegnete sie Tom.
„Wir gehen zur Burg – du kommst doch mit?“
Ann schüttelte den Kopf.
„Nein“, lehnte sie eigensinnig ab. „Ich will mit der Eisenbahn spielen!“
Und sie ließ Tom stehen, um zum ersten Stock emporzusteigen. DerJunge blickte ihr verblüfft nach, zuckte die Schultern und setzte sich in Bewegung, um Jerry zu folgen, der bereits vorangegangen war.
Oben im Arbeitszimmer des Onkels hatte sich Ann inzwischen auf dem Boden niedergelassen und starrte in stummer Verzweiflung die leblose Lokomotive an, die sich nicht von der Stelle rühren wollte. Ihre kindliche Seele befand sich in einem nie gekannten Aufruhr; alles in ihr bäumte sich gegen das Schicksal auf, das sie dazu zwang, diese einmalige Gelegenheit ungenutzt vorübergehen lassen zu müssen.
Da stand es nun, das chromblitzende Wunder aus Metall, auch in der Bewegungslosigkeit noch schön und faszinierend. Ihre Blicke saugten sich an den winzigen Rädern fest, blieben auf den silbernen, zierlichen Stangen haften.
Wenn sich die Lok doch wenigstens nur ein ganz kleines bißchen bewegen würde …
In Anns Gehirn hatte kein anderes Problem mehr Platz. Es gab nichts, an das sie noch hätte denken können. Ihre geistigen Fähigkeiten, nichts als Sehnsucht und Wunsch, konzentrierten sich auf die Lokomotive, und es schien, als habe sie leicht angeruckt.
„Der Wind!“ lachte Ann fröhlich auf. „Der Wind ist endlich gekommen! Nun hat meine liebe Lokomotive Strom. Laufe, liebe Lok, laufe …“
Die Lok setzte sich langsam in Bewegung, rollte gehorsam den ersten Bücherberg hinauf, glitt an der anderen Seite wieder hinab und erreichte in der Ebene eine beachtliche Geschwindigkeit.
Ann sah nur die Lok. Ihre Augen ließen die Maschine nicht mehr los, und es sah so aus, als bildeten
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