TS 91: Bis in die Unendlichkeit
unvergessenen Melodie. An- und abschwellend verfolgte ihn das schrille Pfeifen. Jenner versuchte, sich hinter Hauswänden vor dem durchdringenden Geräusch zu schützen. Er suchte Zuflucht in den verschiedensten Räumen, in der Hoffnung, daß zumindest einer schalldicht wäre. Vergeblich. Das Schrillen verfolgte ihn, wohin er auch immer ging.
Er floh schließlich hinaus in die Wüste und noch den Abhang eines Hügels hinauf, bis das Geräusch leise genug war, um erträglich zu sein. Endlich sank er atemlos, aber unbeschreiblich erleichtert, in den Sand und dachte hoffnungslos: „Was nun?“
Die Szene, die sich vor seinen Augen ausbreitete, schien für ihn Himmel und Hölle in sich zu vereinigen. Alles war jetzt nur zu vertraut: der rote Sand, die felsigen Bodenwellen und das kleine, fremdartige Dorf, das so viel versprach und doch so wenig hielt …
Mit fiebrigen Augen blickte Jenner auf die Häuser hinab und fuhr sich mit seiner geschwollenen Zunge über die trockenen Lippen. Er wußte, daß er ein toter Mann war, wenn es ihm nicht gelang, die automatischen Nahrungsmaschinen zu verändern, die irgendwo in den Wänden und Fußböden der Gebäude versteckt sein mußten.
Vor längst vergessener Zeit hatten hier die letzten Marsbewohner gelebt. Sie waren alle gestorben, doch das Dorf lebte weiter, stemmte sich dem Sand entgegen und wartete gastfreundlich darauf, jedem Marswesen Unterkunft und Nahrung zu bieten, das vorüberkommen würde. Aber es gab keine Marswesen mehr. Es gab nur Bill Jenner, Pilot des ersten Raumschiffes der Erde, das auf dem roten Planeten gelandet war.
Er mußte das Dorf dazu bringen, Nahrung und Getränke zu erzeugen, die für ihn genießbar waren. Ohne Werkzeuge, außer seinen Händen, und mit kaum nennenswerten Kenntnissen der Chemie mußte er das Dorf zwingen, seine Gewohnheiten zu ändern.
Gespannt hob er den Wasserbehälter in die Höhe. Er trank einen kleinen Schluck und nahm seine ganze Willenskraft zusammen, um den Kanister nicht bis auf den letzten Tropfen zu leeren. Als er den Kampf mit sich selbst ein weiteres Mal siegreich beendet hatte, erhob er sich und ging zum Dorf hinunter.
Drei Tage konnte er schätzungsweise noch aushalten. In dieser Zeit mußte er das Dorf bezwingen.
Er befand sich schon unter den Bäumen, als ihm plötzlich auffiel, daß die „Musik“ aufgehört hatte. Erleichtert beugte er sich über einen kleinen Strauch, stemmte sich fest in den Boden, packte die Zweige – und zog.
Die Pflanze löste sich leicht. Eine Marmorscheibe hing fest an ihr. Jenner starrte sie überrascht an und stellte erstaunt fest, daß er sich im Irrtum befunden hatte, als er annahm, daß ihr Stengel durch ein Loch im Marmorboden gewachsen war. Er hing vielmehr wie festgeklebt an der Oberfläche. Und dann bemerkte er noch etwas: die Pflanze besaß keine Wurzeln! Beinahe instinktiv blickte Jenner auf die Stelle hinunter, von der er den Busch zusammen mit dem Marmorstück losgerissen hatte. In der entstandenen Öffnung leuchtete roter Sand.
Er ließ den Strauch fallen, sank auf die Knie nieder und wühlte mit beiden Händen im Sand. Die heißen Körner liefen durch seine zitternden Finger. Tiefer grub er, mit aller Kraft und so weit er reichen konnte.
Alles, was er fand, war Sand – nichts als Sand.
Außer sich vor Aufregung stand er auf und zerrte wie rasend an einem zweiten Strauch. Auch der löste sich leicht, und auch diesmal hing eine Marmorplatte am unteren Ende des Stieles. Er besaß ebenfalls keine Wurzeln und dort, wo er gestanden hatte, befand sich nunmehr Sand.
Ungläubig und fassungslos rannte Jenner zu einem Fruchtbaum in der Nähe und stemmte sich mit aller Kraft gegen den Stamm. Zunächst leistete der Baum Widerstand, – aber dann barst der Marmor und hob sich langsam in die Höhe. Mit einem Krachen fiel der Baum, und seine trockenen Äste und Zweige brachen in tausend Fragmente auseinander. Wo der Baum gestanden hatte, leuchtete roter Sand!
Sand, überall Sand! Das Dorf war auf Sand gebaut. Mars, der Planet aus Sand. Das stimmte natürlich nicht ganz. Zu bestimmten Jahreszeiten hatte man in der Nähe der vereisten Polkappen Pflanzenwuchs feststellen können. Doch nur die zähesten Pflanzen überstanden den Sommer. Es war vorgesehen gewesen, daß das Raumschiff in der Nähe einer jener seichten, gezeitenlosen Polarmeere landete. Aber als das Schiff außer Kontrolle geriet, hatte es mehr als sich selbst vernichtet. Es hatte die Chancen des einzigen Überlebenden
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