TS 97: Das Mittelalter findet nicht statt
Paduei an Tomasus, den Syrier.
Mein lieber Tomasus: Ich schicke dir mit diesem Brief Wittiges, den ehemaligen König der Goten und Italer. Seine Eskorte hat Anweisung, ihn insgeheim in dein Haus zu liefern. Nimm es mir also bitte nicht übel, daß sie dich mitten in der Nacht wecken.
Soweit ich mich erinnere, haben wir auf der Via Flaminia in der Nähe von Helluvium einen kleinen Telegraphenturm, der sich gerade im Bau befindet. Sorge doch bitte dafür, daß unter diesem Turm eine Kammer eingerichtet wird. Schließe Wittiges dort mit ausreichender Wache ein. Sorge dafür, daß er es so bequem wie möglich hat, denn ich halte ihn für einen äußerst jähzornigen Mann und möchte nicht, daß er sich selbst verletzt.
Von besonderer Wichtigkeit ist, daß du strengstes Stillschweigen bewahrst. Das sollte nicht zu schwierig sein, da dieser Turm sich auf einem freien Stück Land befindet. Ich schlage übrigens vor, daß du als Wächter Leute nimmst, die weder Latein noch Gotisch sprechen. Sie dürfen den Gefangenen nur auf meinen Befehl freilassen, den ich entweder persönlich oder telegraphisch übermittle. Im Falle meines Todes oder sofern ich in Gefangenschaft gerate, ist Wittiges sofort auf freien Fuß zu setzen.
Es grüßt dich
Martinus Paduei.“
12.
Die Bevölkerung Ravennas schien wie Wassertropfen in einem Schwamm zu versickern. Ein Großteil strömte nach Norden; fünfzigtausend Goten, die den Rückmarsch nach Dalmatien antraten. Padway schickte laufend Stoßgebete zum Himmel, daß Asinar, der intelligenter als Grippas schien, nicht plötzlich auf den Gedanken kam, nach Italien zurückzukehren, ehe er etwas geleistet hatte.
Padway wagte es nicht, Italien lange genug zu verlassen, um selbst das Kommando über den Feldzug zu übernehmen. Er schickte jedoch einige Angehörige seiner persönlichen Garde mit, um die Goten in der Kunst des Bogenschießens zu Pferde zu unterrichten. Aber es war natürlich durchaus möglich, daß Asinar entschied, auf diesen neumodischen Unsinn zu verzichten, sobald er, Padway, außer Sichtweite war. Ebensogut war möglich, daß die Kürassiere zu Graf Constantianus desertierten, aber es hatte keinen Sinn, zu pessimistisch in die Zukunft zu sehen.
*
Padway selbst zog nach Rom zurück und suchte dort seine gefangenen kaiserlichen Generäle auf. Sie waren komfortabel untergebracht und schienen sich in ihrer Lage ganz wohlzufühlen, obwohl Belisarius schlecht gelaunt und geistesabwesend war. Erzwungene Untätigkeit lag dem ehemaligen Oberbefehlshaber nicht.
Padway fragte:
„Ihr habt ja sicherlich selbst schon erkannt, daß wir hier bald einen mächtigen Staat haben werden. Habt Ihr Eure Meinung inzwischen geändert und seid Ihr bereit, Euch uns anzuschließen?“
„Nein, Quästor, das werde ich nicht. Ein Eid ist ein Eid.“
„Habt Ihr jemals in Eurem Leben einen Eid gebrochen?“
„Nicht, daß ich wüßte.“
„Wenn Ihr aus irgendeinem Grunde mir einen Eid leisten würdet, dann würdet Ihr Euch, wie ich annehme, davon ebenso gebunden fühlen wie durch die anderen, nicht wahr?“
„Natürlich. Aber diese Annahme ist ausgesprochen lächerlich.“
„Vielleicht. Wie wäre es, wenn ich Euch freien Abzug nach Konstantinopel gewährte unter der Bedingung, daß Ihr nie wieder gegen das Königreich der Goten und Italer Waffen tragt?“
„Ihr seid ein kluger Mann, Martinus. Ich danke Euch für das Angebot, aber ich könnte das nicht mit meinem Eid auf. Justinian vereinbaren. Ich muß deshalb ablehnen.“
Padway wiederholte sein Angebot gegenüber den anderen Generälen. Constantianus, Perianus und Bessas nahmen sofort an. Padways Überlegung war folgende: Diese drei waren nur mittelmäßigeKommandeure. Justinian konnte genügend von der Sorte bekommen. Es hatte also nicht viel Sinn, sie festzuhalten. Natürlich würden sie ihren Eid brechen, sobald sie außerhalb seiner Reichweite waren. Aber Belisarius war ein echtes militärisches Genie; er durfte unter keinen Umständen wieder gegen das Königreich kämpfen. Entweder mußte er auf seine Seite treten oder sein Ehrenwort geben – was er allein halten würde –, oder er würde in Gefangenschaft bleiben.
Andererseits war Justinian unvernünftigerweise schon immer eifersüchtig auf Belisarius’ Erfolge und seine unbeugsame Haltung gewesen. Wenn er also erfahren würde, daß Belisarius in Rom geblieben war und es abgelehnt hatte, sein Wort zu geben – von dem er erwartete, daß er es brechen würde –,
Weitere Kostenlose Bücher