TS 99: Exil auf Centaurus
tatsächlichen als auch die eingebildeten. Wie sehr sie mir doch ähnlich ist! dachte er.
Was vorhin Theorie gewesen war über die Menschen der Welt im allgemeinen, sah er nun praktisch angewandt am Individuum.
Er verstand Mrs. Lemmon jetzt besser. Wenn er sie jeweils so behandelte, wie er sich selbst behandelt hätte, und so viel von ihr erwartete wie von sich selbst, so würden sie wahrscheinlich gut miteinander auskommen.
„Ich weiß nicht, was all dieser Lärm bedeutet“, sagte sie vorfühlend.
„Sie werden Kontrollpunkte errichten, glaube ich“, antwortete er zerstreut, die verschiedenen Möglichkeiten erwägend. „Zuerst werden sie die Straßen absperren und dann jeden Häuserblock umstellen, so daß sie in Ruhe suchen können, ohne befürchten zu müssen, daß der Gesuchte hinter ihren Rücken hinausschlüpft.“
Das war alles nur Theorie für ihn, und er konnte vollkommen unberührt darüber sprechen. In diesem Augenblick entsprach er ganz Mrs. Lemmons Romanhelden: die entspannte Nachdenklichkeit, das abstrakte Theoretisieren, die Beherrschung militärischer Prinzipien.
Sein zur Schau getragenes Wissen war nicht echter als das eines Berufsschauspielers, der aus einem Manuskript liest. Und was ein Kontrollpunkt wirklich war, wußte er genauso wenig wie Mrs. Lemmon.
Echt waren nur er und Mrs. Lemmon, die mit ihm hier in der Patsche aß.
Michael Wireman schaute sie an und sah, daß sie ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte, so geblendet, daß es jetzt gar nichts mehr ausmachte, wie er aussah oder welche Gewohnheiten er hatte.
Es war erfreulich, sogar erheiternd, das Objekt so großer Hochachtung zu sein, und wieder eine Enthüllung. Aber er hatte seine Kapazität erschöpft, alles bis ins Detail zu analysieren. Er war müde, verletzt und hatte Angst. Daß sie so viel von ihm erwartete, bedeutete eine weitere Bürde für ihn.
Er mußte von hier herauskommen, bevor sich das Netz um ihn zusammenzog. Und wollte er Mrs. Lemmon vor jeder Strafe bewahren, so blieb nur eins übrig: sie mitzunehmen.
Soweit war alles klar. Er mußte Philadelphia verlassen und Mrs. Lemmon in seinen Plänen berücksichtigen. Er fragte sie nicht, ob sie bereit war, mit ihm zu kommen. Es war so das Beste für sie.
Hätte er Zeit gehabt zu erforschen, warum sie sogar willig ihren Laden verlassen, ihren Platz in der Gemeinschaft, all die Bindungen des gewohnten Lebens aufgeben wollte, so wäre er draufgekommen, daß sie schon lange Witwe war und vom mageren Einkommen lebte, das sich aus einer Rente und den Erträgnissen des Geschäftes zusammensetzte; daß sie schon jahrelang von der Angst verfolgt wurde, noch nicht gestorben zu sein, wenn der unvermeidliche Wiederaufbau Philadelphias ihr Laden und Haus nehmen würde, in dem sie dreißig Jahre lang gewohnt hatte. Ihr Alptraum war, dann weiterleben zu müssen, ohne die vertrauten Dinge um sich, in irgendeinem Haus, das sie Heim nennen würde. Mit der Ablösung für den Laden würde sie natürlich versuchen, den Rest ihres Lebens auf die Art der Siebzigjährigen zu verbringen: bei Spaziergängen, Kartenspielen, in Florida, während sie viel lieber alles beim alten hätte.
Deshalb wollte sie von vorn anfangen, wenn schon nicht von dem Anfang, so doch von irgendeinem Anfang. Sie wollte von selbst gehen und nicht hinausgeworfen werden, sie wollte selbst handeln und nicht von anderen dazu genötigt werden – so gut sie es eben vermochte.
Einmal sagte sie zu Michael Wireman: „Ich habe gewußt, daß es wirklich Menschen wie Sie gibt, und deshalb diese zurechtgemachten Romane über Menschen wie Sie gelesen.“ Erst viel später erkannte er den Sinn dieser scheuen Erklärung.
Michael Wireman hatte jetzt keine Zeit mehr nachzudenken, da er handeln mußte. Er konnte sich nicht länger den Luxus leisten, darauf zu warten, daß ihm andere Freiheit oder Tod brachten.
*
„Aber wie sollen wir entkommen?“ fragte Mrs. Lemmon zitternd.
„Ich weiß …“ Beinahe hätte er gesagt: „Ich weiß nicht.“ Aber das hätte ihr Vertrauen in ihn erschüttert, was für beide nicht gut gewesen wäre.
Und ist das der einzige Grund? dachte er. Bin ich nicht vielleicht eitel darauf, ihr Führer zu sein?
Das erinnerte ihn an Franz Hammil und war etwas zum Nachdenken, nicht jetzt, aber später, zum Nachdenken und Prüfen. Am Anfang gäbe es bestimmt eine Menge Zweifel, die zu beseitigen er jedes gesprochene Wort und jede Tat auf ihren Gehalt an Egoismus würde untersuchen müssen.
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