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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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würde, war klar, was als Nächstes passierte. Ich musste was tun. Ich umklammerte mit beiden Händen den Kürbis, hob ihn hoch über meinen Kopf und brüllte die Straße runter: «Und vergiss nicht, den Schlafsack mitzubringen!»
    Was Besseres fiel mir nicht ein. Der Polizist drehte sich zu mir um. Tschick hatte sich ebenfalls umgedreht. «Vater sagt, du sollst den Schlafsack mitbringen! Den Schlafsack!», brüllte ich noch einmal, und als der Polizist wieder zu Tschick hinguckte und Tschick zu mir, fasste ich mir schnell an Schädeldecke und Hüfte (Mütze, Pistole), um zu erklären, was dieser Mann von Beruf war. Weil, ohne Mütze und nur mit dieser grünlichen Hose war das nicht leicht zu erkennen. Ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben, aber ich wusste auch nicht, wie man einen Polizisten sonst darstellt. Und Tschick begriff auch so, was los war. Er verschwand sofort im Auto und kam mit einem Schlafsack in der Hand wieder raus. Dann machte er die Fahrertür hinter sich zu und tat, als würde er abschließen (Vater hat mir den Schlüssel gegeben, ich musste nur was holen), und ging mit dem Schlafsack beladen auf mich und den Polizisten zu. Doch nur etwa zehn Schritte. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher, warum er stehen blieb. Aber etwas im Gesicht des Polizisten musste ihm wohl klargemacht haben, dass unser Täuschungsmanöver nicht die Theatersensation des Jahrhunderts werden würde.
    Denn mit einem Mal ging Tschick wieder rückwärts. Er fing an zu rennen, der Polizist rannte hinterher, aber Tschick saß schon am Steuer. Rasend schnell parkte er rückwärts aus, und der Polizist, immer noch vierzig Meter entfernt, beschleunigte wie ein Weltmeister. Nicht, um den Wagen einzuholen vermutlich, das konnte er auf keinen Fall schaffen, aber um das Kennzeichen zu lesen. Heilige Scheiße. Ein Sprintweltmeister als Dorfsheriff. Und ich stand die ganze Zeit wie gelähmt mit diesem Kürbis auf der Straße, als der Lada schon auf den Horizont zuhielt und der Polizist sich endlich zu mir umdrehte. Und was ich dann gemacht hab – frag mich nicht. Normal und mit Nachdenken hätte ich das garantiert nicht gemacht. Aber es war ja schon nichts mehr normal, und so dumm war es dann vielleicht auch wieder nicht. Ich rannte nämlich zum Fahrrad hin. Ich warf den Kürbis weg und rannte zum Fahrrad vom Polizisten. Ich war jetzt deutlich näher dran als der Polizist, schleuderte das Rad am Rahmen herum und sprang in den Sattel. Der Polizist brüllte, aber glücklicherweise brüllte er noch in einiger Entfernung, und ich trat in die Pedale. Bis zu diesem Moment war ich nur wahnsinnig aufgeregt gewesen, aber dann wurde es der reinste Albtraum. Ich trat mit aller Kraft und kam nicht von der Stelle. Die Gangschaltung war im hundertsten Gang oder so, und ich konnte den Hebel nicht finden. Das Geschrei kam immer näher. Ich hatte Tränen in den Augen, und meine Oberschenkel fühlten sich an, als würden sie vor Anstrengung gleich platzen. Der Polizist brauchte im Grunde nur noch die Hand nach mir auszustrecken, und dann kam ich langsam in Fahrt und fuhr ihm davon.

27
    Ich schoss über das Kopfsteinpflaster durchs Dorf. Bis zum Marktplatz brauchte ich keine neunzig Sekunden, und ich konnte mir ausrechnen, wie gefährlich das war, weil der Polizist zu diesem Zeitpunkt vielleicht längst am Telefon hing. Wenn er nicht doof war – und er hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre er doof –, rief er einfach jemanden an, der mich am Markt abfangen konnte. Vielleicht gab es hier noch mehr Polizisten. Ich raste mit Höchstgeschwindigkeit zwischen grauen Häusern durch und um die Ecken und endlich auf einem kleinen Weg direkt in die Felder.
    In der Dämmerung lag ich im Wald, allein, keuchend und aufgeregt, mit dem Polizeifahrrad unter einem dichten Gebüsch, und wartete. Und überlegte. Und wurde immer verzweifelter. Was sollte ich machen? Ich war irgendwo hundert oder zweihundert Kilometer südlich oder südöstlich von Berlin in einem Wald, Tschick fuhr gerade mit einem hellblauen Lada mit Münchner Kennzeichen sämtlichen alarmierten Polizeieinheiten der Umgebung davon, und ich hatte keine Ahnung, wie wir uns jemals wiederfinden sollten. Normalerweise würde man in so einem Fall wahrscheinlich versuchen, sich dort wiederzutreffen, wo man sich aus den Augen verloren hat. Das ging jetzt aber schlecht: Da stand das Haus des Dorfsheriffs.
    Eine andere Möglichkeit wäre vielleicht gewesen, zu Friedemanns Familie zu gehen und dort

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