Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
Vom Netzwerk:
eine Nachricht zu hinterlassen. Oder zu hoffen, dass Tschick eine für mich hinterlassen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen kam mir das sehr unwahrscheinlich vor. Das Dorf war winzig, die Leute kannten sich garantiert alle, und Tschick hätte auf keinen Fall nochmal mit dem Auto ins Dorf reingekonnt. Er hätte es höchstens nach Anbruch der Nacht zu Fuß versuchen können, auf die Gefahr hin, dass alle im Dorf längst von dem Vorfall wussten. Und das erschien mir auch deshalb so unwahrscheinlich, weil etwas ganz anderes mir auf einmal viel wahrscheinlicher erschien.
    Wenn man sich nicht da wiedertreffen kann, wo man sich aus den Augen verloren hat, geht man eben an den letzten sicheren Ort zurück, wo man vorher war: die kleine Aussichtsplattform mit dem Kiosk und den Holunderbüschen.
    Das schien mir jedenfalls logisch, während ich da mit dem Gesicht im Dreck lag. Das war die einfachste Lösung, und je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass Tschick da auch draufkommen würde. Weil ich ja auch draufgekommen war. Außerdem lag die Aussichtsplattform ganz günstig. Sie war weit genug vom Dorf entfernt, aber nah genug, dass man sie mit dem Fahrrad erreichen konnte. Und Tschick musste gesehen haben, dass ich mit dem Fahrrad abgehauen war. So verbrachte ich die halbe Nacht in diesem Gebüsch und fuhr dann beim ersten Lichtstrahl mit dem Fahrrad zurück. Ich fuhr einen riesigen Bogen um das Dorf herum und durch den Wald und über die Felder. Der Weg war nicht sehr schwer zu finden, aber es war viel, viel weiter, als ich gedacht hatte. Ich sah die Hügelkette in der Ferne im Nebel, aber sie kam überhaupt nicht näher, und schon nach kurzer Zeit hatte ich großen Durst. Und Hunger hatte ich auch. Rechts auf den Feldern standen ein paar Häuser um eine Backsteinkirche herum, und da fuhr ich dann einfach hin. Der Ort bestand aus drei Straßen und einer Bushaltestelle. Die Straßenschilder waren in einer fremden Sprache, und ich dachte einen Moment, dass ich schon in Tschechien wäre oder was, aber das konnte ja wohl nicht sein. So was Ähnliches wie eine Grenze hätte ich doch wohl bemerkt.
    Es gab auch einen winzigen Laden. Aber der war geschlossen und sah nicht so aus, als würde er demnächst mal wieder aufmachen. Die Schaufenster waren fast undurchsichtig vor Schmutz, drinnen lagen ein halbes Brot und verblichene Kaugummi-Packungen auf einem Tisch, dahinter ein Regal voller DDR-Waschmittel.
    An der Bushaltestelle stand ein Geisteskranker, der mitten auf die Straße pinkelte und mit seinem Pimmel herumschlackerte, als ob es ihm großen Spaß machen würde. Sonst war niemand auf der Straße, und die flachen Sonnenstrahlen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster wie ein roter Lack. Ich überlegte, einfach an einer Haustür zu klingeln und jemanden zu bitten, mir was zu verkaufen. Aber nachdem ich irgendwo geklingelt hatte, wo Licht brannte – der Name auf dem Klingelschild war Lentz, das weiß ich noch genau –, verließ mich sofort der Mut, und ich fragte nur, ob ich vielleicht ein Glas Leitungswasser haben könnte. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, war halb nackt. Er hatte eine Sporthose an und schwitzte. Jung und durchtrainiert, Bandagen um die Handgelenke. «Ein Glas Leitungswasser!», brüllte er. Er starrte mich an und zeigte dann auf einen Wasserhahn außen am Haus. Während ich aus der Leitung trank, fragte er, ob mit mir alles in Ordnung sei, und ich erklärte ihm, dass ich eine Fahrradtour machen würde. Er lachte und schüttelte den Kopf und fragte nochmal, ob mit mir alles in Ordnung wäre. Ich zeigte auf seine Bandagen und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung wäre. Da wurde er sofort ernst und nickte, und die Unterhaltung war zu Ende.
    Als ich auf der Aussichtsplattform ankam, war ich ganz allein auf dem Berg, und es war immer noch früh am Morgen. Hinter dem Sägewerk stand nur ein schwarzes Auto, der Kiosk auf dem leeren Parkplatz war mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ich lief zu den Holunderbüschen hinunter, wo noch Müll von uns lag, aber von Tschick keine Spur. Da war ich wahnsinnig enttäuscht.
    Eine Stunde nach der andern saß ich oben auf der Mauer und wartete. Und wurde immer trauriger. Ausflügler kamen und Reisebusse, aber den ganzen Tag kein Lada. Weiter rumzufahren schien mir nicht klug, weil, wenn Tschick auch rumfuhr, müsste er mich doch irgendwann finden. Und wenn wir beide rumfuhren, würden wir uns nie finden. Irgendwann war ich sicher, dass sie ihn

Weitere Kostenlose Bücher