Tschick (German Edition)
blitzschnell ein paar Steine ein und fing an zu rennen. Sie rannte die Böschung hoch und auf den Alten zu und fing schon im Laufen an, mit Steinen zu schmeißen. Sie schmiss die Steine mindestens fünfzig Meter weit wie an der Schnur gezogen durch die Gegend, und es wunderte mich überhaupt nicht. Wer laufen kann, kann logisch auch werfen. Der Mann pumpte erst noch weiter, aber als Isa schon ziemlich nah war, riss er sich plötzlich die Hose hoch und stolperte in den Wald. Isa folgte ihm mit lautem Geschrei und wilden, schleudernden Armbewegungen, aber es war zu sehen, dass sie nicht mehr mit Steinen warf. Am Waldrand drehte sie um. Außer Atem kam sie zurück und setzte sich auf ihren alten Platz.
Ich muss eine Weile versteinert dagestanden haben, denn irgendwann tippte sie gegen meinen Oberschenkel und sagte: «Weiter.»
Es fehlte nur noch der Pony. Ich ging vor Isa in die Knie, um eine gerade Linie hinzukriegen, und bemühte mich, auch nicht im Entferntesten so auszusehen, als würde ich dabei woanders hingucken als auf diesen Pony. Ich hielt die Schere genau waagerecht und machte einen vorsichtigen ersten Schnitt. Dann beugte ich den Oberkörper zurück wie ein echter Künstler und machte einen zweiten Schnitt. Die Haarspitzen fielen an den schmalen Augen vorbei nach unten.
«Muss nicht genau sein», sagte Isa, «der Rest ist doch auch vergurkt.»
«Überhaupt nicht. Sieht super aus», sagte ich. Und tonlos: «Du siehst super aus.»
Mehr sagte ich nicht. Als ich fertig war, wischte Isa die abgeschnittenen Haare weg, und dann saßen wir auf der Staustufe nebeneinander, schauten in die Landschaft und warteten darauf, dass Tschick zurückkam. Isa hatte ihr T-Shirt noch immer nicht angezogen, und vor uns lagen die Berge mit ihrem blauen Morgennebel, der in den Tälern vorne schwamm, und dem gelben Nebel in den Tälern hinten, und ich fragte mich, warum das eigentlich so schön war. Ich wollte sagen, wie schön es war, oder jedenfalls wie schön ich es fand und warum, oder wenigstens, dass ich nicht erklären konnte, warum, und irgendwann dachte ich, es ist vielleicht auch nicht nötig, es zu erklären.
«Hast du schon mal gefickt?», fragte Isa.
«Was?»
«Du hast mich gehört.»
Sie hatte ihre Hand auf mein Knie gelegt, und mein Gesicht fühlte sich an, als hätte man heißes Wasser draufgegossen.
«Nein», sagte ich.
«Und?»
«Was und?»
«Willst du?»
«Was will ich?»
«Du hast mich schon verstanden.»
«Nein», sagte ich.
Meine Stimme war ganz hoch und fiepsig. Nach einer Weile nahm Isa ihre Hand wieder weg, und wir schwiegen mindestens zehn Minuten, von Tschick immer noch keine Spur. Auf einmal kamen mir die Berge und das alles ziemlich uninteressant vor. Was hatte Isa da gerade gesagt? Was hatte ich geantwortet? Es waren nur ungefähr drei Worte, aber – was bedeuteten sie? Mein Gehirn nahm ungeheuer Fahrt auf, und ich würde schätzungsweise fünfhundert Seiten brauchen, um aufzuschreiben, was mir in den nächsten fünf Minuten alles durch den Kopf ging. Es war wahrscheinlich auch nicht sehr spannend, es ist nur spannend, wenn man gerade drinsteckt in so einer Situation. Ich fragte mich nämlich hauptsächlich, ob Isa das ernst gemeint hatte, und auch, ob ich das ernst gemeint hatte, als ich gesagt hatte, dass ich nicht mit ihr schlafen will, falls ich das überhaupt gesagt hatte. Aber tatsächlich wollte ich gar nicht mit ihr schlafen. Ich fand Isa zwar toll und immer toller, aber ich fand es eigentlich auch vollkommen ausreichend, in diesem Nebelmorgen mit ihr dazusitzen und ihre Hand auf meinem Knie zu haben, und es war wahnsinnig deprimierend, dass sie die Hand jetzt wieder weggenommen hatte. Ich brauchte eine Ewigkeit, bis ich mir einen Satz zurechtgelegt hatte, den ich sagen konnte. Ich übte diesen Satz in Gedanken ungefähr zehnmal, und dann sagte ich mit einer Stimme, die klang, als würde ich gleich einen Herzinfarkt kriegen: «Aber ich fand es schön mit deiner … ähchrrm. Hand auf meinem Knie.»
«Ach?»
«Ja.»
«Und warum?»
Und warum, mein Gott. Der nächste Herzinfarkt.
Isa legte ihren Arm um meine Schulter.
«Du zitterst ja», sagte sie.
«Ich weiß», sagte ich.
«Viel weißt du nicht.»
«Ich weiß.»
«Wir könnten ja auch erst mal küssen. Wenn du magst.»
Und in dem Moment kam Tschick mit zwei Brötchentüten durch die Felsen gestiegen, und es wurde nichts mit Küssen.
34
Stattdessen ging es rauf auf den Berg. Wir hatten ja nie einen Plan, was wir
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