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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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vorher dreißig Jahre nichts mehr voneinander gehört haben. Dass wir alle wieder hierherkommen, egal, wo wir dann gerade sind, ob wir Siemens-Manager sind oder in Australien. Wir schwören uns das, und dann reden wir nie wieder drüber. Oder ist das blöd?» Nein, fanden sie gar nicht blöd. Wir standen um diese Schnitzerei rum und schworen, und ich glaube, wir dachten alle drüber nach, ob das sein könnte, dass wir in fünfzig Jahren noch immer am Leben wären und wieder hier. Und dass wir dann alles mickrige Greise wären, was ich unvorstellbar fand. Dass wir wahrscheinlich nur mit Mühe den Berg raufkommen würden, dass wir alle eigene blöde Autos hätten, dass wir im Innern wahrscheinlich noch genau dieselben geblieben wären und dass der Gedanke an Anselm Wail mich noch immer genauso fertigmachen würde wie heute.
    «Machen wir», sagte Isa, und Tschick wollte dann noch, dass wir alle unsere Finger ritzen und einen Tropfen Blut auf die Buchstaben gießen, aber Isa meinte, wir wären doch nicht Winnetou und dieser andere Indianer, und da haben wir’s dann nicht gemacht.
    Als wir abstiegen, sahen wir weit unter uns zwei Soldaten. Auf dem Pass, wo der Lada parkte, standen jetzt ein paar Reisebusse. Isa lief sofort zu einem hin, auf dem in unlesbarer Schrift irgendwelche Dinge standen, und redete auf den Fahrer ein. Tschick und ich sahen uns das vom Lada aus an, und dann kam Isa plötzlich zurückgesprintet und rief: «Habt ihr mal dreißig Euro? Ich kann euch das nicht wiedergeben jetzt, aber später, ich schwör! Meine Halbschwester hat Geld, die schuldet mir noch – und ich muss jetzt da lang.»
    Ich war sprachlos. Isa holte ihr Holzkästchen aus dem Lada, sah mich und Tschick schief an und sagte: «Mit euch schaff ich’s nie. Tut mir leid.» Sie umarmte Tschick, dann sah sie mich einen Moment lang an und umarmte mich auch und küsste mich auf den Mund. Sie sah sich nach dem Reisebus um. Der Fahrer winkte. Ich riss dreißig Euro aus der Tasche und hielt sie ihr wortlos hin. Isa umarmte mich nochmal und rannte davon. «Ich meld mich!», rief sie. «Kriegst du wieder!» Und ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Oder frühestens in fünfzig Jahren.
    «Du hast dich nicht schon wieder verliebt?», fragte Tschick, als er mich vom Asphalt aufsammelte. «Im Ernst, du hast ja echt ein glückliches Händchen mit Frauen, oder wie sagt man so?»

35
    Die Sonne knallte von vorn, der Asphalt sah in der Entfernung aus wie flüssiges Metall. Wir waren längst aus den Bergen raus, und Tschick steuerte auf eine Kreuzung zu, an der Autos auf der Straße standen, die sich nicht bewegten. Sie zitterten leicht in der Mittagshitze, als wären sie unter Wasser. Es war keine Straßensperre, eher ein Unfall, aber ein Auto hatte ein blaues Blinklicht auf dem Dach.
    Tschick schwenkte sofort nach rechts in einen Feldweg zwischen hohen Strommasten. Der Weg war breit genug, dass ein Lkw dort hätte fahren können, aber völlig von Gras überwuchert, als hätte ihn schon lange niemand mehr benutzt. Die Polizei schien uns nicht bemerkt zu haben. Wir konnten sie allerdings auch nur noch wenige Sekunden lang sehen, dann hatte sich der Feldweg in einen Wald aus Birken geschlängelt. Unter den großen Birken kleinere Birken, und unter den kleineren Birken noch kleinere Birken, sodass man nur noch ein paar Meter weit sehen konnte. Allein oben war noch Himmel und ab und zu ein Strommast. Der Weg wurde immer schmaler und machte nicht gerade den Eindruck, als ob er irgendwohin führen würde. Schließlich endete er an einem Holzgatter, das schief in den Angeln hing. Dahinter lag bis zum Horizont eine sumpfige Ebene, und diese sumpfige Ebene sah so anders aus als die ganze andere Landschaft davor, dass wir uns einen Blick zuwarfen: Wo sind wir denn hier?
    Wir beratschlagten kurz, dann ging ich raus und zerrte das Gatter auf. Tschick fuhr durch, und ich machte das Gatter wieder zu.
    Flach gewölbte, etwas hellere Stellen, dazwischen tiefgrüner, fast violetter Sumpf. Im Sumpf verstreut große, quadratische Betonquader, in denen senkrecht Metallstäbe steckten, mit gelben Markierungen an der Spitze. Zuerst waren es nur ein paar Quader, aber je weiter wir kamen, desto voller lag die Landschaft mit diesen Betonblöcken mit dem Metallstab obendrin. Alle paar Meter einer, bis zum Horizont. Man hätte eigentlich wieder Richard Clayderman einlegen können, so traurig sah das aus, wie trauriges Klaviergeklimper. Auch der Weg wurde langsam

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