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Tschick (German Edition)

Tschick (German Edition)

Titel: Tschick (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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machen wollten, aber während wir frühstückten, guckten wir die ganze Zeit auf diesen Berg, der aussah wie der höchste Berg überhaupt, und irgendwann war klar, dass wir da mal raufmussten. Unklar war nur, wie. Isa fand zu Fuß am besten. Das fand ich auch, aber Tschick meinte, zu Fuß wäre ja wohl Schwachsinn. «Wenn du fliegen willst, nimmst du ein Flugzeug, zum Waschen eine Waschmaschine, und wenn du auf den Berg willst, nimmst du das Auto», sagte er. «Wir sind doch nicht in Bangladesch.»
    Wir kurvten also am Berg entlang durch den Wald, aber es war schwierig, die richtige Abzweigung nach oben zu finden. Erst hinter dem Berg schlängelte sich eine Straße hinauf, und dann krochen wir durch die Felsen voran bis zu einer kleinen Passhöhe. Von da ging die Straße wieder bergab, und wir mussten doch zu Fuß zum Gipfel.
    Entweder hatten wir die Seite erwischt, wo die Touristen nicht waren, oder wir waren wirklich die Einzigen an diesem Morgen – jedenfalls begegneten wir auf dem ganzen Weg durchs Gelände nur Schafen und Kühen. Zwei Stunden brauchten wir bis ganz nach oben, aber es lohnte sich, und es sah aus wie auf ganz tollen Postkarten. Auf der höchsten Spitze stand ein riesiges Holzkreuz, darunter irgendwo eine kleine Hütte, und die ganze Hütte war bedeckt mit Schnitzereien. Da setzten wir uns hin und lasen Buchstaben und Zahlen. CKH 23.   4.   61. Sonny 86. Hartmann 1923.
    Das Älteste, was wir finden konnten, war «Anselm Wail 1903». Uralte Buchstaben in uraltem, dunklem Holz, und dazu der Ausblick auf die Berge und die heiße Sommerluft und ein Geruch von Heu, der aus dem Tal hochwehte.
    Tschick zog sein Taschenmesser raus und fing auch an zu schnitzen. Und während wir uns sonnten, uns unterhielten und Tschick beim Schnitzen zuguckten, musste ich die ganze Zeit darüber nachdenken, dass wir in hundert Jahren alle tot wären. So wie Anselm Wail tot war. Seine Familie war auch tot, seine Eltern waren tot, seine Kinder waren tot, alle, die ihn gekannt hatten, waren ebenfalls tot. Und wenn er irgendwas in seinem Leben gemacht oder gebaut oder hinterlassen hatte, war es wahrscheinlich auch tot, zerstört, von zwei Weltkriegen verwüstet, und das Einzige, was übrig war von Anselm Wail, war dieser Name in einem Stück Holz. Warum hatte er den da hingeschnitzt? Vielleicht war er auch auf großer Reise gewesen wie wir. Vielleicht hatte er auch ein Auto geklaut oder eine Kutsche oder ein Pferd oder was sie damals hatten und war herumgeritten und hatte seinen Spaß gehabt. Aber egal, was es war, es würde nie wieder jemanden interessieren, weil nichts übrig war von seinem Spaß und seinem Leben und allem, und nur wer hier auf den Gipfel stieg, erfuhr noch von Anselm Wail. Und ich dachte, dass es mit uns logisch genauso sein würde, und da wünschte ich mir, Tschick hätte unsere vollen Namen ins Holz geritzt. Aber allein für die sechs Buchstaben und zwei Zahlen brauchte er schon fast eine Stunde. Er machte es sehr ordentlich, und dann stand da:
     
    AT MK IS 10
     
    «Jetzt denken alle, wir wären 1910 da gewesen», sagte Isa. «Oder 1810.»
    «Ich find’s schön», sagte ich.
    «Ich find’s auch schön», sagte Tschick.
    «Und wenn ein Witzbold kommt und ein paar Buchstaben dazwischenschnitzt, wird das die ATOMKRISE 10», sagte Isa, «die berühmte Atomkrise des Jahres 2010.»
    «Ach, halt doch die Klappe», sagte Tschick, aber ich fand es eigentlich ganz lustig.
    Allein dass jetzt unsere Buchstaben neben all den anderen Buchstaben standen, die von Toten gemacht worden waren, zog mir am Ende doch irgendwie den Stecker.
    «Ich weiß nicht, wie es euch geht», sagte ich, «aber die ganzen Leute hier, die Zeit – ich meine, der Tod.» Ich kratzte mich hinterm Ohr und wusste nicht, was ich sagen wollte. «Ich wollte sagen», sagte ich, «ich finde es toll, dass wir jetzt hier sind, und ich bin froh, dass ich mit euch hier bin. Und dass wir befreundet sind. Aber man weiß ja nie, wie lange – ich meine, ich weiß nicht, wie lange es Facebook noch gibt –, aber eigentlich würde ich gern wissen, was aus euch mal wird, in fünfzig Jahren.»
    «Dann googelst du einfach», sagte Isa.
    «Und Isa Schmidt kann man googeln?», sagte Tschick. «Gibt’s da nicht hunderttausend?»
    «Ich wollte eigentlich auch was anderes vorschlagen», sagte ich. «Wie wär’s, wenn wir uns einfach in fünfzig Jahren wiedertreffen? Genau hier, in fünfzig Jahren. Am 17. Juli, um fünf Uhr nachmittags, 2060. Auch wenn wir

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