Tschoklet
Hemd uniformierte Pförtner lächelte sie aus seinem struppigen, in alle Richtungen abstehenden Schnauzbart an.
Da ist etwas richtig faul, dachte sie sich. Der Typ ist nicht der, für den er sich ausgibt. Ein Franzose, der sie ›Fraulein‹ nannte! Die Franzmänner in Ketsch hatten immer ›Mademoiselle‹ gesagt! Ich muss Edwards unbedingt informieren.
Der amerikanische Deserteur blieb noch kurz stehen und überlegte, da sich das Mädchen unglücklicherweise zurück zu dem Pförtner begeben hatte. Schließlich entschloss er sich zu verschwinden, Edwards könnte ja jeden Moment wieder auftauchen und ihn vielleicht entdecken.
Um sich abzulenken und die Wartezeit zu verkürzen, fing Chistine an, die links neben ihr an der Wand befestigte Krankenhausordnung zu lesen. Besonders ein Satz, der wohl kürzlich erst über den handgemalten Text geklebt wurde, stach ihr ins Auge:
VII: Auf Anweisung des Stadt-Kommandanten der 9. Kolonial-Infanterie-Division, General J.-E. Valluy und dem Kommandanten der französischen Polizei, M. A. Barricourt, werden Zivilpersonen hier nur in Notfällen behandelt. Stationäre Aufnahme erfolgt ausschließlich im Vincentius-Krankenhaus, im Diakonissen-Krankenhaus sowie im Ausweichhaus in der Lessingstraße.
Plötzlich fiel es ihr siedend heiß ein, wen sie gerade vor sich gehabt hatte. Das war der entflohene amerikanische Polizist aus Mannheim! Der Motorradfahrer! Der Mörder! In der Uniform des französischen Polizeichefs! Sie warf einen Blick auf die große Wanduhr: noch zwei Stunden. Unsicher sah sie durch die Glastür nach draußen und fing an, vor Angst zu zittern. Doch der Mann mit dem grünen Pullover und dem Arm in der Schlinge war verschwunden. Sie sollte ihn leider schneller wiedersehen, als ihr lieb sein konnte.
*
Harrison lief innen an der mannshohen Mauer des Krankenhauses entlang, auf der Suche nach einem Ausgang. Er überstieg mehrere Zäune innerhalb des Geländes, die die einzelnen, leer stehenden Abteilungen trennten, und blieb schließlich vor einem massiven Portalbau stehen, durch den ein weiß gefliester Gang mit einem runden Gewölbe ins Freie führte. Von dessen strahlend weiß gekalkter Decke hing eine große, kunstvoll verzierte gusseiserne Gaslampe herab. Direkt im Gewölbe standen zwei gelangweilte Wachsoldaten und rauchten filterlose Zigaretten.
*
Verdammt! Was mach ich jetzt? Denk nach, Chuck! Wie kommst du an denen vorbei, ohne dass sie Alarm schlagen?
*
Bevor der Deserteur irgendetwas unternehmen konnte, bemerkten ihn die beiden Wachen. Als sie den Namen des Polizeichefs auf dem Pullover lasen, warfen sie hektisch die Zigaretten weg, gingen ins Stillgestanden und grüßten den verdutzten Amerikaner zackig. Einer inneren Eingebung folgend, grüßte Harrison mit der unverletzten linken Hand lässig zurück und trat durch den Torbogen ins Freie.
Er überquerte den schon im Schatten der schräg stehenden Sonne liegenden Vorplatz nach rechts und lief die Blücherstraße hinunter. Mehrere ihm entgegenkommende Gruppen von Unteroffizieren grüßten ihn voll Ehrfurcht. Harrison fand Gefallen daran, dass die Kolonialsoldaten in ihm einen so berühmt-berüchtigten Polizei-Offizier erkannten. So würde zumindest keiner auf die Idee kommen, ihn nach dem Ziel zu fragen. Eilig überquerte er die breite, von Platanen gesäumte Kaiserallee in Richtung Yorckstraße. Nachdem er einige ausgebombte Häuserfronten mit Schuttbergen passiert hatte, verließ er die Straße und quetschte sich zwischen zwei halb geöffneten Toren hindurch in den schattigen Hinterhof eines Hauses, um auf den Einbruch der Dunkelheit zu warten.
Währenddessen wartete Christine nervös auf die Rückkehr der amerikanischen Soldaten. Immer wieder sah sie auf den viel zu langsam dahinkriechenden Minutenzeiger der Wanduhr. In unregelmäßigen Abständen warf sie einen kurzen Blick an dem altgedienten Pförtner vorbei, durch das offene Schiebefenster hindurch, auf die im Sonnenlicht flimmernde Straße. Plötzlich stand der Pförtner auf, klappte das Durchgangsbrett der Besuchertheke hoch und stellte sich vor sie hin: »Haben Sie eigentlich Ihre Angehörigen gefunden, mein Fräulein?«
»Nein, ich muss in einem anderen Krankenhaus suchen. Ich kenne mich hier leider nicht aus.«
»Konnte Ihnen der Polizeioffizier nicht helfen? Der hat doch Beziehungen überallhin.«
»Der Mann von vorhin? Der mit der Armschlinge?« Das Mädchen staunte.
»Ja. Der Chef der französischen
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