TTB 100: Der Traum der Maschine
könne Anhetes in diesem Augenblick die Schwingen des Todes fühlen, die über Zokesh schwebten. Das Schweigen, das über der Residenzstadt des Sonnenkönigs hing, erstreckte sich vom Hafen zum Palast, von der Tempelstadt der Sternengöttin bis zu den fünf Stadttoren. Nur vereinzelte Lichter durchbrachen die stumme, erdrückende Dunkelheit. Es hatte den Eindruck, als bräche jeden Moment aus dieser unirdischen Ruhe ein verheerender Sturm los.
Die Gesänge der Schiffer aus dem Hafen schienen vor langer Zeit zum letztenmal erklungen zu sein, und auch die Lieder in den Schänken schwiegen. Nur auf der Terrasse des Palastes brannte ein gewaltiges Feuer. Es war unheimlich, und Anhetes fühlte einen eisigen Schauer.
In Zokesh wohnten nur Geister – sie schienen die Menschen verdrängt zu haben. Hinter den Säulenkolonnaden hörte man ein Flüstern, dann einen unterdrückten Schrei und eilige Schritte. Die Geräusche verloren sich in den langen Schatten, die der aufgehende Mond auf das Pflaster zauberte. Anhetes zog seinen kurzen Dolch, ging in die Mitte der Straße hinaus und setzte seinen Weg ruhig fort.
Nicht weit vor ihm schickte sich eine weißgekleidete Gestalt an, die Prozessionsstraße zu überqueren. Der Schemen blieb stehen, als er in das gelbe Licht heraustrat und Anhetes gewahrte. Ein dünner Schatten erstarrte auf den Steinplatten; der Umriß von Anhetes Gestalt kam näher und verschmolz mit dem des anderen Mannes.
»Die Göttin schütze dich diese Nacht, Anhetes«, sagte eine müde, alte Stimme. Anhetes blickte den Greis an und hob die Rechte grüßend bis in Augenhöhe. Hara-mot stand vor ihm, der Älteste Priester des königlichen Tempels.
»Sie schütze auch dich, Hara-mot«, sagte Anhetes. »Wie steht es um Tot-meres?«
Hara-mot breitete langsam die Arme aus. Es war eine unsichere Geste. Des Priesters Gesichtszüge, deren Linien Anhetes unter der weißen Kapuze wahrnehmen konnte, drückten Zweifel und Hoffnungslosigkeit aus.
»Der greise König leidet seit sechs Tagen – der Kaiadler will seine Seele noch nicht annehmen. Vielleicht stirbt Tot-meres diese Nacht?«
Anhetes nickte düster. Er hatte dieselben Gedanken.
»Ein eiskalter Wind wird sich heute vom Coserufer erheben. Der Wind führt den Kaiadler mit sich«, sagte Anhetes tröstend.
»So wird es sein«, murmelte Hara-mot. Anhetes lächelte ihn kurz an und sagte:
»Es ist spät. Ich sehne mich nach meinem warmen Haus und einem guten Essen. Ich bin müde; die Gärten um den Turm sind fast fertig.«
Während er die Kapuze ins Gesicht zog, murmelte Hara-mot:
»Wir treffen uns sicher in den nächsten Tagen, Anhetes!«
»Ich zweifle nicht daran«, antwortete Anhetes abschließend. Die beiden Schatten trennten sich und wanderten in entgegengesetzten Richtungen davon. Die Stadt war menschenleer, ohne jede Spur des verwirrenden Lebens, das sich am Tage und sonst auch in den Nächten über die Quadern der Gassen bewegte oder unter den weißen Sonnensegeln verharrte.
Der erste Windstoß kam schneidend vom Ufer des Coser herauf. Der eisige Hauch wehte über die breiten Brücken, drang durch die geschlossenen Tore, schlüpfte durch die leeren Straßen Zokeshs und heulte über Wälle und Gräben. Anhetes hüllte sich fester in seinen Umhang und ging etwas schneller. Er war allein.
So allein wie Tot-meres, der sterbende König. Siebenter aus der Sippe der Meres, Resident zu Zokesh, Herrscher über das Land der vier Flüsse, Verkörperung von Veega, der Sonne.
Die dreihundert Stadien, die Anhetes noch bis zu seinem Haus am Steilufer des Coser und unmittelbar neben der Tempelstadt der Sternengöttin Ka zurückzulegen hatte, waren ein gerades Stück der Prozessionsstraße. Neben hohen Wänden mit eingravierten Figuren der Götter, deren Augen durch den Glanz gefaßter Edelsteine geheimnisvoll leuchteten, neben Freudenhäusern und Schänken und alten Steinbauten, in denen reiche Händler oder königliche Beamte wohnten, erstreckten sich lange Reihen schlanker Säulen. Die Kapitelle wurden von mächtigen Banitquadern getragen. Es waren Tempelvorplätze, hinter denen sich Altäre befanden, von erstickenden Weihrauchdämpfen umgeben.
Portale glänzten unter dem fahlen Gelblicht des Mondes Oneg. Das Gestirn war voll; wieder war ein Monat der Blütezeit über das Land gezogen. Anhetes Heimweg wurde zu einem Wettlauf zwischen ihm und der Kälte. Der Wind brachte Sand mit sich, der in Schleiern über die Steine stäubte und sich in Ecken ablagerte.
Die
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