TTB 100: Der Traum der Maschine
heiser.
»Ist dein Platz nicht an der Seite deines toten Vaters?« fragte Anhetes. Das Mädchen sah ihn an und nickte.
»Ich lasse mich sofort dorthin bringen. Wir sehen uns morgen?«
Fragend zog Anhetes die Brauen hoch und meinte:
»Sollten wir?«
»Ja – bitte. Ich möchte mich lange mit dir unterhalten. Dein Ruf drang bis in die Winkel des Palastes. Du sollst mir von den Sternen erzählen. Wir treffen uns ...«
»Wo?« fragte Anhetes ruhig.
»Im Schilf des Dagras. Dort, wo du den kleinen Palasthafen gebaut hast. Dort wird mein Boot liegen. Ich warte. Die neunte Stunde?«
»Du wünschst es, Prinzessin. Ich sage zu«, sagte Anhetes ernst und verbeugte sich kurz. Einen Augenblick lang verweilte die Prinzessin noch schweigend, indem sie Anhetes musterte. Dann streckte sie die Hand aus und legte sie dem Priester in den Nacken. Ein eisiger, glühender Schauer durchfuhr Anhetes. Beeha-ti zog die Hand zurück, lachte leise und schlug die Kapuze wieder nach vorn. Wie eine Gazelle sprang sie die Stufen hinunter.
Sie verschwand zwischen den Wachen und den Panthern in der Dunkelheit des Tempelplatzes. Anhetes ging langsam die Stufen hinab.
Durch die engen Gassen kehrte er zu seinem Haus zurück. Jetzt traten die fünfzehn Fanfarenbläser auf die Palastterrasse und setzten die Instrumente an die Lippen.
Die schmetternden Töne hallten über Zokesh.
Anhetes hielt kurz inne und hörte zu, wie der Nachtwind das Signal in einzelne Tongruppen zerriß. Über und neben Anhetes öffneten sich Fenster und Türen. Durch die Stadt ging ein Raunen.
»Der Kaiadler hat die Seele des Königs angenommen!«
Hinter Anhetes krachte die Haustür zu, und der Mantel flog über die Steinbank. Der Baumeister ging leise durch die Halle, die Treppe hinauf und schlug den schweren Vorhang zu seinem Zimmer zurück. Der Raum, der vor Anhetes lag, war nur durch Mondlicht und ein winziges Öllämpchen erhellt. Der Schleier vor dem großen Fenster war zurückgezogen. Anhetes blickte hinaus und sah die leblose Oberfläche des Coser unter sich. Hier machte der Fluß eine Schleife und staute sich etwas. Als ein goldener Fleck lag das Spiegelbild des Nachtgestirns auf dem Wasser, das nur von den Blasen auftauchender Fische zum Zittern gebracht wurde. Schilfkolben rahmten das Bild ein.
Eine Bewegung im Zimmer – und der Mann riß sich von dem Anblick los. Der schwere Stoff des Vorhangs lag schützend um Aubens Glieder. Die Sklavin stand neben dem Fenster und sah Anhetes an.
»Tot-meres ist gestorben?« fragte sie leise.
»Der Kaiadler flog mit seiner Seele davon«, erwiderte Anhetes und löste seine Sandalen. »Hast du die Fanfaren nicht gehört?«
»Ich wurde wach davon«, erklärte Auben. »Ich schlief ein, als ich wartete.«
»Um so ausgeruhter wirst du jetzt sein«, sagte Anhetes leichthin.
Das Zimmer war stilvoll eingerichtet. Über dem Bett aus Holzbalken und federnden Ledergurten war ein langes Brett an der Wand befestigt. Papyrusrollen lagen darauf, Griffel und Schreibzeug, alte Kulturgegenstände. Eine kleine Statue, die Anhetes' Vater darstellte, stand daneben. Der Mann trug die Insignien des königlichen Beamten. Der Boden des Raumes war mit aneinandergehefteten Fellen belegt. Drei kantige Holzstühle, ebenfalls mit Fellen geschmückt, standen darauf.
Eine Silberplatte an der Wand und ein wuchtiger Schrank vervollständigten die Einrichtung. Es waren die Erscheinungsformen einer schwerbeweglichen Kultur, die den Raum und das ganze Haus erfüllten. Langsam zog Auben die Vorhänge zu. Das Zimmer wurde dunkler.
Anhetes warf das Leinenhemd ab, löste den Gürtel und streifte den Goldreif vom Oberarm. Dann ließ er sich auf das Bett fallen. Auben schien zu zögern, als Anhetes zwischen die Decken glitt und die Felle über sich zog.
»Komm her!« sagte Anhetes heiser. »Du bist noch so begehrenswert wie an dem Tag, an dem ich dich kaufte.« Langsam ging das Mädchen ans Bett heran. Anhetes streckte die Hand aus und ergriff das Haar, wickelte es sich um die Faust und zog den Kopf des Mädchens zu sich herunter.
»Frierst du nicht?« fragte er, bevor er sie küßte. Sie schüttelte den Kopf.
»Nicht mehr«, sagte sie und legte sich neben ihn. Anhetes rückte zur Seite und ließ das Haar los.
Er dachte an Beeha-ti.
»Darf ich dich etwas fragen, Herr?« hörte er die Stimme der Sklavin. Er nickte kurz.
Beeha-ti hatte hellblondes Haar wie die meisten Töchter Tot-meres'. Sie hatte auch blaue Augen, und sie würde nicht nur über die
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