TTB 100: Der Traum der Maschine
beschäftigte ihn. Beaka lief ihnen noch nach, als sie loszogen, klammerte sich an Morlok und sagte etwas, das Kuva nicht verstand. Morlok wies in seine Richtung und schüttelte den Kopf. Dann löste er ihre Arme von seinem Hals und kam auf Kuva zu.
»Los!« sagte er. Er drehte sich nicht mehr um. Sie kamen durch die Wälder der Weißbäume, wo einst Avik den Tod gefunden hatte. Schließlich sahen sie die Höhlenwand vor sich aufragen. Das Tagauge schien, aber man erkannte nichts.
»Kannst du etwas sehen?« fragte Kuva. Morlok schüttelte den Kopf.
»Noch nichts«, sagte er knapp.
Sie gingen weiter, als sie den langgezogenen Schrei eines Aasvogels hörten. Kuva fröstelte, als der Vogel mit krachenden Flügelschlägen aufflog und ihm noch weitere Vögel folgten. Morlok sah Kuva an und zuckte mit den Achseln.
Als sie zum Trampelpfad kamen, fanden sie einen Fellschuh. Morlok hob ihn auf, betrachtete ihn lange und warf ihn dann wieder weg. Eine Schwarzpelzfährte zog zu den Höhlen hinauf; sie war aber nicht frisch. Dann waren sie bei der ersten Höhle.
»Hierher«, sagte Morlok und blieb vor einem Steinhaufen stehen. »Was kann das sein?«
Kuva sagte mit trockener Kehle:
»Ich weiß es nicht.« Er nahm einige Steine auf und warf sie zur Seite. Dann hörte er auf, nahm die Steine und legte sie wieder zurück.
»Was ist das?« fragte Morlok.
»Kinder, tote Kinder«, sagte Kuva und schluckte. »Sie haben sie hier mit Steinen bedeckt. Wahrscheinlich waren sie schon zu schwach, um sie ganz nach unten zu bringen. Und die anderen Männer – wo sind sie?« fragte Kuva laut.
Morlok antwortete nicht. Sie kletterten weiter und gingen in die Höhlen hinein. Ein moderiger Geruch schlug ihnen entgegen. Morlok ging voran, Kuva folgte ihm.
*
Nicholas kam wie ein Taucher aus der schlammigen Tiefe des Traumes wieder an die Oberfläche der Wirklichkeit. Es war sechs Uhr morgens; die Sonne schien durch das kleinere Fenster.
Nicholas fror erbärmlich. Er bewegte die Lider und versuchte, sich zurechtzufinden. Wie die tastende Hand eines Blinden bewegte sich sein Blick über die Dinge, die in seinem Gesichtskreis erschienen: Der obere Rand des Bildes, die Leisten der Staffelei, die eingeschaltete Lampe, die Fensterverkleidung und die farbverschmierten Finger, die auf den Knien lagen.
Dann ergriff ihn lähmendes Entsetzen.
Er wurde endgültig wach, und zu seiner Übelkeit kamen noch die Ängste. Es waren die Befürchtungen, daß er zusehen mußte, wie er langsam wahnsinnig wurde. Eine fremde Macht schien sich seines Verstandes bemächtigt zu haben.
Der Rest der Überlegungen sagte ihm, daß er sich in der Abgeschlossenheit der Wohnung befand – der Traum aber hatte ihn in der stickigen Dunkelheit der Höhle zurückgelassen. Nicholas krampfte sich an der Sessellehne fest, stand auf, taumelte und wäre gestürzt, hätte nicht der Sessel dagestanden.
»Was ist denn bloß mit mir los?« fragte sich Nicholas lallend.
Er zuckte die Schultern und tastete sich entlang der Wände bis zur Toilettentür. Sie blieb für zehn Minuten hinter ihm geschlossen. Als er wieder herauskam, war er bleich und hatte rote Augen, aber ein langer Schluck Kognak besserte sein Befinden.
Nicholas ließ sich auf die Couch fallen und stützte den Kopf in die Hände. Ihm war übel; abwechselnd überliefen ihn heiße und kalte Schauer. Arme und Beine schmerzten, als wären sie aufgeschürft. Die Erinnerung ließ Nicholas keine Ruhe. Er stand mühsam auf und ging hinaus zum Schrank. Im obersten Fach lagen die Zeichenpapiere. Er zog einen halbquadratmetergroßen Bogen hervor, legte ihn auf den Tisch und holte die Schachtel mit den Fettstiften. Die Sonne, die sich auf dem Rot des Bildes in der Staffelei brach, erfüllte den kleinen Raum mit unheimlichem Licht.
Nicholas begann zu zeichnen.
Ein neues Bild entstand. Wieder schien es dem Studenten, als ob ein fremder Künstler ihm die Hand führte, die Farben bestimmte und die vollkommene Macht über ihn besaß. Und kaum, als er die Kreide in den Fingern hatte, schloß sich die Glocke über Nicholas. Er sank zurück in seinen Traum und gab wieder, was fremde Augen – seine Augen – gesehen hatten. Die Wirklichkeit löste sich auf. Er mußte sich davon befreien, indem er die nächtlichen Eindrücke zu Papier brachte.
In breiten, schwarzen Linien entstanden die Umrisse dreier Tiere. Sie waren fremd, wie alles in diesem Traum. Sie hatten Ähnlichkeit mit Urochsen, mit Stieren oder Wisenten, zeigten
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