TTB 100: Der Traum der Maschine
die Spuren langer Behaarung und kurze Hörner mit nach vorn gerichteten Spitzen. Buschige Schweife streckten sich aus. Muskelstränge zeichneten sich ab und wurden farbig abgesetzt Zwei Tiere standen sich mit gesenkten Köpfen gegenüber, ein drittes galoppierte in wilder Flucht unter ihnen von links nach rechts.
Ein anderer Stift, andere Farben ...
Böse leuchteten Augen auf, die Spitzen der Hörner schimmerten in einem diffusen Licht. In sicheren und kräftigen Schwüngen zogen die Spitzen der Fettstifte über den rauhen Karton, hinterließen Spuren, die sich zu einem Bild zusammenfügten. Wieder eine andere Farbe.
Der dritte Koloß floh anscheinend. Kleine Blitze umschwirrten ihn; Pfeile, die sich ins zottelige Fell bohrten und blutende Wunden hervorriefen.
Vier Stunden lang arbeitete Nicholas unter jener Glocke, die den Kontakt mit der Umwelt unterband. Die Fläche hinter den braunroten Tieren wurde zu Fels. Die schraffierten Felder verwandelten sich in Rillen, Gesteinsfugen und kleine Vorsprünge. Schwarze Adern von Granit oder einem anderen dunklen Stein durchzogen das Bild. Dann löste sich der Bann.
Nicholas öffnete die Augen und sah zum erstenmal mit Bewußtsein, was er gemalt hatte. Er fürchtete sich fast davor, zu atmen. Die nervösen Finger tasteten nach der Schachtel und holten eine Zigarette hervor. Sie wurde angezündet und verqualmte langsam unter Nicholas' Fingern. Er lehnte sich zurück und sah, was er gemalt hatte.
Ein mehr als rätselhaftes Bild.
Jetzt, wo die Anspannung von Nicholas gewichen war, kehrten die bohrenden Schmerzen zurück. Sie erstreckten sich von der Außenseite der Unterarme bis zu den Schienbeinen. Nicholas zog, sich mühsam bückend, die Hose etwas hoch und sah blutverkrustete Spuren auf der Haut.
Er erschrak und zog mit wenigen Handgriffen das Hemd aus. Die Unterarme waren mit langen, schrägen Rissen bedeckt, auf denen das Blut schon eingetrocknet war. Es sah aus, als sei Nicholas durch dorniges Unterholz gelaufen. Am Ellenbogen war eine Brandblase. Ebenso an den Füßen. Bis auf die Innenseiten der Oberschenkel war die Haut mit Kratzern übersät. Nicholas dachte an den Splitter, den er sich vor vier Tagen aus dem Unterarm herausgezogen hatte und schüttelte verständnislos den Kopf. Er stand auf und ging unter die Dusche. Er ließ das warme Wasser an sich herunterlaufen, wusch sich sehr sorgfältig und rieb dann vorsichtig und mit zusammengebissenen Zähnen Hautöl auf die zerschundenen Stellen.
Die Zigarette und die warme Dusche hatten ihn müde gemacht. Nicholas schlüpfte in seinen Frotteemantel, legte sich auf die Couch und war binnen einiger Minuten eingeschlafen.
Als er erwachte, war es Nachmittag. Er fühlte sich wohl und war ausgeschlafen. Und – er wußte keine einzige Kleinigkeit mehr von dem, was er geträumt und was ihn so beunruhigt hatte. Diese Anfälle schienen nur kurze Unterbrechungen seines normalen Befindens zu sein. Nicholas rieb sich den Schlaf aus den Augen, ging in das kleine Vorzimmer hinaus und stellte einen Topf mit Wasser auf den Kocher. Eine Stunde später war Nicholas rasiert, angezogen und restlos wach. Er saß vor dem Tisch, auf dem sich seine sämtlichen Vorräte des Kühlschrankes befanden. Sie waren rund um eine mächtige Kanne voll Kaffees aufgebaut.
Das Radio spielte Musik, und die Sonne schien jetzt von der anderen Seite ins Studio herein.
Nicholas schüttelte den Kopf. Er war mehr als verwundert über das, was ihm jetzt schon zum zweiten Mal zugestoßen war. Er versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Angenommen, Grenelles These stimmte. Nach der Meinung des bärtigen Exportleiters war alles richtig: Nicholas träumte nicht direkt, sondern wurde nur mit dem Geschehen konfrontiert, das auf einer der Parallelwelten ablief. Die Gestalten der beiden Männer; des Baumeisters und Priesters und des Mannes ohne Namen, der mit dem Bogen schoß, waren nichts anderes als Nicholas selbst, in zwei anderen Kulturen verankert. Er erlebte, was sie erlebten – und umgekehrt?
Eine andere Möglichkeit?
Nicholas war ein Künstler, obwohl er diese Bezeichnung fast als Beleidigung auffaßte. Er war zumindest ein Mensch, dem es gegeben war, seine inneren Eindrücke zu offenbaren, mitteilen zu können. Waren es nicht auch innere Eindrücke gewesen, die andere Maler oder Musiker dazu zwangen, ihre Werke zu komponieren oder zu malen?
So war es. Bestimmt! Nicholas glaubte daran. Also waren Grenelles Thesen über Träume und
Weitere Kostenlose Bücher