TTB 100: Der Traum der Maschine
Krankheit.«
Nicholas trank sein Glas mit zwei langen Schlucken leer und stellte es hart auf die Theke zurück.
»Du hältst mich also auch für leicht verrückt?« fragte er mit plötzlich aufkeimendem Mißtrauen. Claudine sah ihn mit großen Augen an.
»Wie kommst du darauf? Habe ich etwas davon gesagt?«
Nicholas gab keine Antwort. Er saß bewegungslos da und starrte das letzte schmelzende Eisstückchen in seinem Glas an.
»Nicholas?« fragte Claudine leise und berührte ihn am Arm.
Er drehte den Kopf zu ihr herum.
»Was ist los?«
»Paß auf«, begann das Mädchen, »ich werde dir die Adresse eines Freundes meiner Mutter geben. Es ist Poul Roger, ein Psychotherapeut. Das soll jetzt nicht heißen, daß ich dich für schizophren halte, aber hier wird dir ein Fachmann sagen können, ob – oder wie wenig – schizophren du bist.
Wir alle, Grenelle oder ich, sind keine Psychologen. Roger ist einer; er wird dich anhören und dir sagen, ob du Sorgen haben mußt oder nicht. Er wird auch Abhilfe schaffen können, wenn sie nötig sein sollte.«
»Claudine«, sagte Nicholas und legte ihr den Arm um die Schulter. Das Mädchen lehnte sich an ihn. »Das ist es nicht, fürchte ich. Ich fühle mich wie ein Partikel, das von unbekannten Kräften umhergeschleudert wird. Wie auch die Personen, deren Identität ich in den Träumen annahm. Das ist kein Wissen, sondern vage Vermutung. Ich weiß nicht ... ich suche den Knotenpunkt. Ist es eine Person, ein Ort, eine Gelegenheit, eine Stunde – irgendwann wird sich alles aufklären.«
Claudine begann zu spüren, wie sich etwas unwägbar Fremdes zwischen Nicholas und sie schob. Sie hatte Angst, ihn zu verlieren – liebte sie ihn? Auch sie wußte es nicht genau. Wahrscheinlich. Sie flüsterte verzweifelt:
»Nicholas – du versteigst dich in Regionen, die bei dieser Sache nicht mit drin sind. Träume ... schön! Aber nicht diese existenzphilosophischen Versuche. Bitte, Nicholas, verfolge diese Gedanken nicht weiter. Du ruinierst dich damit selbst.«
Nicholas blickte sie an, dann sagte er langsam und betont:
»Dir scheint viel daran zu liegen, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagte sie und senkte die Lider. »Deinetwegen!«
Nicholas schwieg und merkte kaum, wie Grenelle die Gläser wieder füllen ließ.
»Ist dieser Irrenarzt ein guter Freund eurer Familie?« fragte er.
»Ja. Ein ruhiger, alter Mann mit ausgezeichnetem Fachwissen. Wir kennen ihn zufällig, wir zählen nicht zu seinen Patienten. Ich weiß, daß er dir sagen wird, was zu sagen ist. Gehst du hin?«
»Ich weiß nicht recht. Sollte ich?« fragte Nicholas zurück.
»Selbstverständlich«, antwortete Claudine. »Es kostet dich zwanzig Franc und mich einen einzigen Anruf. Roger wird dich anhören.«
»Schon gut. Hast du die Adresse?«
»Ich schreibe sie dir nachher auf«, sagte Claudine und holte ihre Zigarettenschachtel hervor. Sie bot Nicholas an und ließ sich Feuer geben.
»Ich werde hingehen«, sagte Nicholas plötzlich entschieden. »Montag nachmittag. Benachrichtige den Mann, damit ich nicht Stunden warten muß. In dieser irren Zeit muß seine Praxis überfüllt sein.«
»Vermutlich. Aber spare dir deine ängstlichen Gedanken für diesen Besuch auf. Nichts mehr davon heute abend.«
»In Ordnung«, sagte Nicholas. Grenelle wandte sich an ihn. Er lächelte hinter seinem Bart und meinte:
»Ist die schlechte Stimmung vorüber, oder hält sie noch an?«
»Einigermaßen vorbei«, sagte Nicholas. Er brachte ein Lächeln zustande.
»Freut mich für Sie«, sagte Grenelle. »Trinken Sie aus. In den Regalen dort ist noch mehr davon!«
»Sie scheinen eine Gehaltsaufbesserung bekommen zu haben«, sagte Nicholas lachend.
»So ähnlich!« erwiderte der Bärtige.
»Wissen Sie«, begann Grenelle und schlug Nicholas leicht auf die Schulter, »ich freue mich richtig. Sie alle kennengelernt zu haben. Es wird mir ein Vergnügen sein, mit anzusehen, wie Sie langsam berühmt werden. Darf ich Ihnen einen Rat geben?«
»Bitte!« sagte Nicholas einfach. Claudine hörte aufmerksam zu.
»Machen Sie auf alle Fälle Ihr Studium zuerst fertig, ehe Sie sich der Malerei widmen. Versuchen Sie, das Malen als Hobby zu betrachten, als ernstes Hobby.«
»Nichts anderes tue ich«, sagte Nicholas bestimmt.
Grenelle nickte.
»So ist es richtig. Ein guter Architekt verdient mehr als ein Künstler – auch wenn er so gut ist wie Sie.«
»Mein Gott«, sagte Nicholas überrascht. »Sie scheinen wirklich etwas von meinen Versuchen zu
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