TTB 102: Die Wächter der Sternstation
daß es dir trotzdem gefällt.«
Ihre Finger berührten seine, als sie ihm die Schnitzerei aus der Hand nahm, und er hoffte, daß sie es nicht bemerkt hatte. Einmal erst hatte er ihre Hand halten dürfen und ihr einen Kuß auf die Wange gegeben – letztes Jahr im Herbst, am Erntedankfest. Aber er hatte nur selten Gelegenheit, sich gründlich zu waschen – zu Frühlingsanfang, am Erntedankfest und zu Neujahr –, deshalb schämte er sich, wenn sie ihn in seiner Arbeitskleidung sah. Er wich wie gewöhnlich schüchtern einen Schritt zurück.
»Conrad, du bist ja ein Künstler!« rief Idris begeistert aus. Conrad sah sie an und war froh darüber, daß er nicht versucht hatte, die Ähnlichkeit noch mehr herauszuarbeiten. Diesen lebendigen Gesichtsausdruck konnte nur ein Meister annähernd wiedergeben – besonders jetzt, als sie sich über sein Geschenk freute. Vielleicht sollte er sie lieber in voller Größe darzustellen versuchen; dieser Körper unter dem weichfallenden Gewand ...
Conrad spann den Gedanken weiter aus und schämte sich innerlich, daß er ihn überhaupt gehabt hatte.
»Hast du die Fremden gesehen?« erkundigte sich Idris und stellte die Statue auf ein Regal hinter sich.
»Ja«, antwortete Conrad betrübt und berichtete von seinen Erlebnissen an diesem Nachmittag. Idris stampfte zornig mit dem Fuß auf, als sie hörte, wie er um seine Belohnung gekommen war.
»Manchmal frage ich mich wirklich, ob es nicht doch besser wäre, wenn ich einfach fortginge«, meinte Conrad. »In eine andere Stadt – für einen guten Seifensieder gibt es bestimmt überall Arbeit. Oder in die Wüste, wo mein eigener Vater mich hingewünscht hat.«
»Das darfst du nicht sagen!« ermahnte ihn das Mädchen ängstlich.
»Glaubst du nicht auch, daß es mir in einer anderen Stadt besserginge? Das mit der Wüste war nicht ernst gemeint.«
»Kann sein. Aber ich würde dich vermissen, glaube ich. Wirklich, es täte mir leid, wenn du fortgehen würdest!«
In diesem Augenblick wurde die Haustür geräuschvoll geöffnet. Idris warf ihm einen erschreckten Blick zu. »Du mußt gehen! Hier, nimm das mit; es ist nicht viel, aber mehr habe ich heute nicht übrig.« Sie drückte ihm etwas Brot, Käse, Zwiebeln, Salat und einen Apfel in die Hand. »Schnell! Danke schön für die Schnitzerei. Morgen kannst du dir ziemlich viel Asche abholen, weil wir heute gebacken haben – dabei sehen wir uns ja wieder.«
Sie hielt ihm die Tür auf, damit er hinaushinken konnte. Gerade noch rechtzeitig, denn kaum hatte sie den Riegel wieder vorgeschoben, als auch schon die schrille Stimme ihrer Mutter ertönte.
Er aß fast alles auf, was sie ihm geschenkt hatte, und ließ nur soviel für seinen Vater übrig, damit der keinen Grund hatte, sich über seinen Sohn zu beschweren. Dann rollte er sich in seine Decke und starrte noch lange Zeit vor sich hin, bevor er endlich einschlief. Er hatte einen wunderschönen Traum, in dem er auf einem Pferd ritt und ein rot-schwarzes Banner schwenkte, weil er eine lebensgroße Statue von Idris geschnitzt hatte, die alle bewundern sollten.
6
»Nestamay! Nestamay! Nestamay!«
Das Mädchen zog sich die Decke über das Gesicht, als könne sie dadurch die Außenwelt von sich abschließen.
»Nestamay, Zeit für deine Wache!« wiederholte Großvater laut und stieß sie in die Seite. Sie fuhr auf und öffnete verschlafen die Augen. Großvaters Gebrüll hatte den kleinen Dan aufgeweckt, der jetzt in einer Ecke der Hütte vor sich hin greinte. Sie hatte seit Mittag geschlafen, hätte aber ohne Mühe noch einmal zwölf Stunden schlafen können.
Aber dazu bot sich keine Gelegenheit. Sie hüllte sich in ihre Decke und ging nach draußen. Als sie wieder zurückkam, war sie hellwach, denn aus dem Brunnen floß eiskaltes Wasser. Sie ließ sich an dem wackeligen Tisch nieder und aß schweigend – Haferflocken, getrocknete Früchte, ein Stück Brot.
»Beeile dich, Nestamay!« knurrte Großvater. »Du verspätest dich sonst noch!«
Zuerst wollte sie ihn fragen, ob das wirklich eine Rolle spiele, aber dann unterdrückte sie diesen Wunsch gerade noch rechtzeitig. Selbstverständlich spielte es eine Rolle, daß jede Nacht einer von ihnen Wache hielt, obwohl die automatische Alarmvorrichtung noch nie versagt hatte. Nestamay konnte keinen Grund dafür angeben, aber diese Tatsache war ihr von Kindheit an eingebleut worden, bis sie schließlich keinen Zweifel mehr daran hatte.
Zu manchen Zeiten glaubte sie, daß Großvater
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