TTB 102: Die Wächter der Sternstation
den Grund dafür wissen mußte, und manchmal bezweifelte sie es. Aber nie sehr lange.
Nachdem sie gegessen hatte, griff sie nach dem Regal, in dem die Handscheinwerfer standen. Dort stand allerdings nur einer; nicht der, den sie sonst benutzte. Dann fiel ihr ein, daß sie ihren heute morgen in die Sonne gestellt hatte, damit er sich wieder auflud. Sie griff nach dem anderen und hoffte, daß Großvater sie nicht dabei beobachtete.
»Nestamay!« sagte er scharf, und sie ließ die erhobene Hand sinken. »Jedem seinen eigenen, hast du das vergessen? Wenn du deinen draußen vergessen hast, dann mußt du ihn eben jetzt holen. Aber schnell! «
Nestamay wollte schon widersprechen, aber dann überlegte sie sich, daß die Dunkelheit nicht so schlimm sein konnte, wie Großvater es bei einem seiner Wutanfälle war. Deshalb nickte sie nur stumm, zog sich rasch an und schlüpfte in die Nacht hinaus.
Die Dunkelheit war gar nicht so schlimm, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hatte. Über ihr glitzerten die Sterne. Aus den umliegenden Hütten – insgesamt fünfundzwanzig – drangen leise Geräusche. Irgendwo weinte ein Kind. Einen Augenblick lang wünschte sie sich, sie wäre ebenfalls eines, anstatt bereits erwachsen zu sein. Dann unterdrückte sie diese verrückte Idee und schlich weiter.
Wenige Minuten später erreichte sie die Stelle, wo sie ihren Scheinwerfer zum Aufladen abgestellt hatte. Er war noch immer dort; als sie ihn einschaltete, leuchtete sein Strahl hell auf. Aber sie schaltete ihn sofort wieder aus. Die Zellen waren noch nicht völlig aufgeladen, und niemand konnte vorhersagen, wie oft sie die Lampe im Lauf der Nacht benutzen mußte.
Nestamay blieb kurze Zeit unbeweglich stehen und atmete mit tiefen Zügen die reine Nachtluft ein, bevor sie in Richtung auf die Station weiterging. Das Gebilde ragte wie der Rücken eines Dings aus der Nacht empor und bildete eine Drohung an sich, die stets andere Formen annahm. Schließlich nahmen alle Schrecken dort ihren Ursprung.
Rechts von ihr bewegte sich etwas zwischen den Hütten und kam auf sie zu. Mit einem leisen Aufschrei wich sie einen Schritt zurück, schaltete den Handscheinwerfer ein und faßte ihre Axt fester. Gewiß, das war keine Waffe, mit der man sich gegen ein Ding verteidigen konnte, aber was sollte sie sonst tun? Manche dieser Ungeheuer ließen sich nicht einmal durch einen Hitzestrahler vertreiben.
Dann stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. »Jasper!« rief sie. »Jasper, wie kannst du mich nur so erschrecken!«
In dem Lichtschein tauchte ein grinsender junger Mann auf. »Du würdest mich doch nicht etwa mit der Axt bearbeiten wollen, Nestamay?« erkundigte er sich.
»Nein. Nein, das glaube ich nicht«, antwortete das Mädchen nervös.
»Komm, gib mir lieber einen Kuß«, drängte Jasper. »Ich habe dich heute den ganzen Tag lang nicht gesehen.«
Nestamay erfüllte seinen Wunsch nur zögernd. Sie wußte, daß sie eines Tages Jasper heiraten mußte, denn er war der einzige in ihrer Altersgruppe, mit dem sie nicht allzu nah verwandt war – deshalb mußte sie sich allmählich an seine Aufmerksamkeiten gewöhnen. Aber sie tat es ohne große Begeisterung.
Als er zudringlich werden wollte, stieß sie ihn energisch von sich fort.
»Ich bin als Wache eingeteilt!« wies sie ihn zurecht.
Jasper lachte. »Was macht denn das schon aus?« flüsterte er. »Schließlich braucht kein Mensch zu erfahren, daß du statt dessen eine Weile mit mir fortgewesen bist. Ich habe einen Platz auf der gegenüberliegenden Seite der Station gefunden, wo ...«
»Hör auf!« rief Nestamay empört aus. »Jasper, wie kannst du mir nur so etwas vorschlagen? Ich soll meinen Posten verlassen – das wäre unverzeihlich!«
»Ich würde es dir verzeihen.« Jasper grinste. »Und die anderen brauchten es ja nicht zu erfahren.«
»Ich werde es Großvater erzählen!«
»Ausgerechnet dem!« meinte Jasper geringschätzig. »Es wundert mich wirklich, daß du noch immer nicht einsiehst, was für ein alter Narr er ist. Jeder muß Wache halten und tagsüber in der Station arbeiten – aber zur Verbesserung unserer Lebensverhältnisse bleibt keine Zeit!«
»Aber wir können doch nicht anders!« wandte Nestamay ein.
»Wirklich? Und wer behauptet das? Dein Großvater und die übrigen Zittergreise! Ich möchte wetten, daß er selbst nicht an die Märchen glaubt, die er uns vorsetzt; meiner Meinung nach benützt er sie nur, um uns in ständiger Angst zu halten. Wenn er im Ernst
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