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Tu dir weh

Tu dir weh

Titel: Tu dir weh Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilaria Palomba
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einen Streit gefasst, doch ihre Eltern sind ganz fein angezogen, ein falsches Lächeln von frisch geputzten Zähnen. Beinahe wie im Chor wünschen sie: »Alles Gute zum Geburtstag!«
    Süßholzraspler.
    »Stella«, sagt ihre Mutter und umarmt sie, »herzlichen Glückwünsch.«
    Insulin, bitte.
    Stella windet sich aus der Umarmung ihrer Mutter heraus und klopft ihr auf die Schulter. Ihre Augen sind vom Schlaf verquollen, der Mund von der Nacht verklebt.
    Sie beobachtet die nagelneuen weißen Sandalen, das mit Strass bestickte Oberteil, den langen Rock und die Sechziger-Jahre-Frisur ihrer Mutter. Dann sieht sie zu ihrem Vater hinüber, dessen Jeans enger sind als sonst, dazu ein gestreiftes T-Shirt, Geheimratsecken und Turnschuhe.
    Melodramatiker.
    »Wir haben ein tolles Geschenk für dich«, sagt Nicola.
    Geld wäre mir lieber gewesen, damit ich es so ausgeben kann, wie ich will.
    »Ich hab’ dir Auberginenauflauf gemacht«, sagt Monica.
    Es wird der übliche unbrauchbare Kram sein.
    Stella fällt die Verabredung mit Marco ein. Sie holt das Handy und checkt die Anrufe. Nichts.
    Vielleicht noch zu früh, er wird mich später anrufen, bestimmt. Diesmal geht er k. o.
    Der Gedanke lässt ihr Herz schneller schlagen und verscheucht die Müdigkeit. Sie wäscht sich, zieht sich an und geht in die Küche.
    »Hier lang, Schatz«, ruft ihre Mutter, noch immer mit diesemScheißlächeln, »ich habe heute den Tisch im Wohnzimmer gedeckt.«
    Ach so, wir tun heute also, als ob wir eine richtige Familie wären. Na großartig.
    Stella setzt sich auf das Sofa im Wohnzimmer und packt das Geschenk aus. Von der Größe und Form lässt sich auf den typischen Ethno-Kram schließen, den sie immer mal wieder von ihren Eltern bekommt, aber die Abbildung, die beim Auspacken zutage tritt, sieht weder nach einem Spiegel mit Holzrahmen noch nach einer Lampe aus: Als sie begreift, dass das Geschenk zu ihrem zwanzigsten Geburtstag eine Nikon D700 ist, strahlt sie über das ganze Gesicht. Der Geruch von frisch geöffneter Verpackung steigt ihr in die Nase, und sie lächelt. Für einen Augenblick fühlt sie sich wie der Mittelpunkt der Welt.
    Diesmal haben sie einen Volltreffer gelandet, das Streiten tut ihnen gut.
    Beim Essen sind sie entspannt und freundlich, sie schluckt alle Speisen und Getränke, die ihr aufgetischt werden. Der Geschmack von Auberginen und Tomatensoße mischt sich mit dem Geruch der Schokolade von dem Kuchenblech. Die Zunge knetet Essen und Worte, niemand will bemerken, was los ist in diesem Wohnzimmer, rund um die Tischdecke voll Speisen, Farben, silbernem Besteck, Spirituosen und Blicke.
    »Jetzt kann ich meine Reisen dokumentieren«, sagt Stella.
    Aber in diesem Zimmer gibt es keinen, der ihr wirklich zuhört. Der laute Streit vom vergangenen Abend ist in einen feindseligen Blickwechsel übergegangen. Monica bemüht sich, ihrer Tochter zuzulächeln, aber ihre Augen sind abwesend. Nicola starrt auf den Teller und stopft sich voll bis zum Gehtnichtmehr, als würde das in dieser Geschwindigkeit hinuntergeschlungene Essen einen Mattfilter überalles legen, was ihn umgibt. Schließlich bemerkt Stella den unsichtbaren Faden zwischen Monica und Nicola, der die beiden auf unterschwellig aggressiver Hochspannung hält, aber in einer Welt, die weit von ihr entfernt ist.
    »Hey, was ist los mit euch? Ist alles in Ordnung?«
    »Nichts, Stella, iss den Kuchen«, sagt ihre Mutter und zeigt auf eine braune Teigmasse, die nach Schokolade riecht und mit zwei dünnen Kerzen bestückt ist.
    Ok, die Torte esse ich, aber diese Grabesstimmung ist nichts für mich.
    Stella starrt die formlose, duftende Teigmasse an. Die Hand ihres Vaters nähert sich den Kerzen mit einem Feuerzeug. Der Daumen drückt auf das Feuerzeug. Stella schaut in die Flamme, das hohle Licht, die Wärme. Sie beobachtet die Kerzen und verzieht das Gesicht zu einer traurigen Miene.
    Du bist jetzt zwanzig, Stella, und hast noch immer keinen blassen Schimmer.
    Sie spürt die Wärme der Hand ihres Vaters auf der rechten Schulter.
    »Stella, willst du nicht die Kerzen auspusten?«
    Sie dreht sich zu ihm um, statt des gewohnten Gesichts sieht sie das eines Mannes mittleren Alters, dessen Augen verraten, wie sehr ihn das Leben enttäuscht hat, ein Gesicht, in dessen dunklen Schattierungen die Sehnsucht versteckt liegt, vor all dem zu fliehen.
    Sie pustet gelangweilt in Richtung der Kerzen, als ob sie eigentlich nichts mit ihnen zu tun hätte. Sie schneidet die Torte an, schaufelt sich

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