Tu dir weh
Haar.
Die andere ist so sehr mit ihrer Verzweiflung und den Tränen beschäftigt, dass ihr an Stella nichts auffällt; die Verletzung an den Rippen, das von Schlägen geschwollene Gesicht. Stella muss also die Rotkreuzschwester für ihre Freundin geben, obwohl gerade ihr eigenes Leben vor die Hunde geht.
Es gibt keinen Abgrund, es geht immer tiefer.
Sie legt die Arme um die Brust ihrer Freundin. Sie spürt den warmen Körper der Frau, die wegen ihres Mannes leidet, spürt, dass es jenseits von allen Geschehnissen etwas gibt, was diesen Körper mit Alberto verbindet.
Zwischen Marco und mir gibt es dieses Etwas nicht.
Stella hört, wie ihre Gedanken kreisen: »Wenn ich die Erinnerungen einfach aus meinem Kopf löschen könnte, wenn ich andere Entscheidungen getroffen hätte, nie an jenem Abend mit Marco und seinen Freunden ins Zero tanzen gegangen wäre. Wenn ich auch Lorynie begegnet wäre, nie der Illusion verfallen wäre, jemanden gefunden zu haben, der mich liebt.«
Lory und Alberto sind sich so nahe, wie habe ich mir bloß einbilden können, hier einzuziehen?
Stella spürt ihren Magen rumoren, und in diesem kurzen Augenblick wünscht sie sich nichts mehr als einen Teller Pasta.
»Lory.« Stella hebt Lorys Kopf etwas an. »Lass uns was essen.«
»Was?«, sagt die andere verwirrt.
»Wir sind völlig abgewrackt, eine mehr als die andere, wir können uns nicht so gehen lassen. Der Schmerz wird bleiben, aber wir dürfen nicht aufgeben, wir müssen weiterleben, mein Schatz, essen, schlafen, dasein, verstehst du?«
»Ich hab’ keinen Hunger, ich hab’ keine Lust etwas zu tun, ich will nur, dass Alberto von diesem Bett aufsteht.«
»Weißt du, bestimmt ist dir das in diesem Moment egal, aber mir geht es auch beschissen, ich hab’ nicht geschlafen, nicht gegessen und ... nicht nur das, aber jetzt hab’ ich wieder Hunger bekommen. Vielleicht weil ich zwanzig bin und du achtundzwanzig, finde ich, dass es noch längst nicht Zeit ist, sich einfach so vergammeln zu lassen.«
Lory schaut zu ihr auf, mit diesen verweinten Augen, dem zerzausten Haar. Stella würgt diesen klebrigen Speichel herunter, der typisch ist für einen, der tagelang nichts zu sich genommen hat. Sie nimmt einen fauligen Geruch von ihrem Magen wahr, der sich anscheinend gerade selbst verdaut.
Sie drückt Lory an sich wie eine Freundin, wie eine Liebhaberin, wie eine Schwester. Sie ignoriert den Schmerz in ihrem Brustkorb und nimmt sie in den Arm. Sie überredet sie, vom Sofa aufzustehen und etwas zu essen zu kaufen.Nach dem Essen fahren sie zur Poliklinik, die Reste der Focaccia und Salami lassen sie auf dem Tisch zurück.
Sie betreten die Orthopädie. Es riecht nach diesen typischen Krankenhausmahlzeiten, eine Mischung aus Erbrochenem und Gemüsesuppe. Weiße Wände, die Hitze des Junis, Ärzte, die etwas erklären.
»Ihm geht es besser, er kommt wieder auf die Beine.«
Was sollen sie sonst sagen?
Lory hält die Tränen zurück, klammert sich an Stellas Arm. Schaut sie an.
»Halt dich fest.«
Sie öffnen die Tür zu Albertos Zimmer.
Jesus Christus, haben die ihn übel zugerichtet.
Alberto hat beide Beine in Gips, eine Binde über dem rechten Auge, das linke ist halb geschlossen von der Schwellung, überall blaue Flecken. Er hat keine Dreadlocks mehr, sondern kurze Haare, kraus und gerupft – als ob sie notgedrungen geschnitten worden sind. Seine Lippen sind geschwollen und voller Schorf. Der rechte Arm ist verbunden und der Hals von einer Brandwunde gezeichnet.
Lorys Hand schließt sich fester um die von Stella, die den Druck erwidert.
Kopf hoch, Freundin.
Sie gehen näher heran. Lory holt einen Stuhl und setzt sich neben Alberto. Sie streichelt ihm über den Kopf.
»Ich liebe dich, Liebster, ich liebe dich so.«
Er bewegt das freie, aber trotzdem veilchenblaue Auge einige Zentimeter und bemerkt Stella. Er versucht zu reden, aber aus seinem Mund kommt nichts als unverständliches Genuschel.
Er streckt den Arm nach Stella aus. Sie reißt die Augen auf in demWunsch, ihn nicht aus der Nähe betrachten zu müssen, aber sie geht doch näher heran, lässt sich berühren, spürt auf ihren Armen die raue Oberfläche von Albertos verschorften Handflächen.
»Alberto, was haben sie mit dir gemacht?«
»Liimme Saahen«, stammelt er.
Stella versucht, ihm mit einem Handzeichen zu verstehen zu geben, dass er sich nicht anstrengen soll. Dann schaut sie Lory an, die auf ihren Lippen kaut, ihre Augen sind feucht.
»Weißt du, was sie ihm
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