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Tuchfuehlung

Tuchfuehlung

Titel: Tuchfuehlung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Meissner-Johannknecht
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eine WG? Oder was? Wer ist der Vater?
    Mein Mund ist trocken, ich nicke.
    «Birnensaft, Mineralwasser oder Rotwein?»
    «Rotwein!», sage ich.
    Einen Aschenbecher entdecke ich nicht.
    Ein altes Glas, gefüllt mit Wein, steht jetzt vor mir auf dem Boden. Mir zittern die Hände. Warum eigentlich?
    «Es geht um Sophia!», sagt Markus. «Wir haben leider alle etwas ungünstige Arbeitszeiten!» Er trinkt einen Schluck Saft. «Wir arbeiten freiberuflich.»
    Wer ist das: «wir»? Und «alle»? Das sagt er nicht.
    Ihre Füße sind nackt. Wahrscheinlich Fußbodenheizung!
    Die Beine unter dem Bademantel braun und unbehaart. Ich seh die Knie, den Ansatz des Oberschenkels ...
    Nein, Zeno!
    Ich schau auf den Boden. Auf diesen hellen Teppich unter meinen Füßen. Aber das grobe Profil meiner Lederstiefel hat sich bereits eingegraben. Grauschwarze, feuchte Spuren auf dem weißen Teppich. Das war nicht eingeplant. Tut mir Leid.
    «Es geht vor allem um den Nachmittag und den Abend. Nicht jeden Tag. Je nachdem, welche Termine anstehen.»
    Unauffällig lasse ich meinen Blick durchs Zimmer gleiten. Nichts, aber auch nichts sagt mir, dass hier ein Kind wohnt!
    «Du wärst ideal!», sagt Markus. «Weil du im Haus wohnst. Da w ä r ja sogar mal eine Nacht drin, oder?»
    Ich trinke einen Schluck. In was lasse ich mich da ein? Babysitter! Hab ich nie zuvor gemacht. Was muss ein Baby sitter tun? Ich kenn mich da nicht aus. Mit kleinen Kindern kenn ich mich überhaupt nicht aus.
    «Wir könnten dir acht Mark die Stunde zahlen und für die Nacht eine Pauschale von fünfzig! W ä r das in Ordnung?»
    Ich nicke. Und was muss ich tun? Aber ich trau mich nicht zu fragen. Ich will den Job. Ja. Ich will ihn unbedingt. Ich will keine Brillen verkaufen, und ich will auch keine Brillen gestelle klauen. Ich will wirklich lieber mit Sophia durch Regenpfützen laufen, Puppen an- und ausziehen, Fünf-Gänge-Menüs aus Kastanien und Kieselsteinen kochen und Höhlen bauen. Ja, auch Höhlen bauen. Mit Sophia werde ich das können, ohne dass es gefährlich wird.
    « Am besten, du kommst morgen um vier. Dann kannst du Sophia kennen lernen und auch Vera, ihre Mutter. Wir können dann den Plan für die Woche machen. Passt das für dich?»
    Markus bringt mich zur Tür. Und lächelt sein freundliches Lächeln. Er legt mir die Hand auf die Schulter. Sie ist warm. Angenehm warm. Das spür ich durch all meine Panzer schich ten ...
    Die 163 Stufen nehmen kein Ende heute. Zu viel Rotwein. Ich weiß. Ich werde aufpassen. Ich muss aufpassen. Sonst rutsch ich ab. Ich bin gefährdet. Ziemlich gefährdet...
     
    Ob mein Vater sich beruhigt hat? Noch schützt mich die Rotweinhülle. Ich werde ihn aushalten. Heute Abend werde ich ihn aushalten.
    In der Wohnung ist es still. An der Garderobe keine Lederjacke. Seine Birkenstocks stehen im Flur.
    Ich bin allein.
    Nein, keinen «Gelöschten Wein». Heute nicht. Ich bin müde. Ich bin ruhig. Ich werde gut schlafen.
    Die Gespenster sollen sich im Novemberregen austoben. Nicht in meinen Träumen. Ich lasse sie einfach nicht rein, wenn sie vor der Tür stehen.
    Ich mach das Licht aus. Ohne den Wecker zu stellen. Ich überlasse mich dem Schicksal. Soll es mich wecken, wenn es mich wecken will. Sonst eben nicht.
    Und es ist freundlich zu mir. Das Schicksal. Es ist zwölf, als ich die Augen öffne und dem Weckhahn einen Blick gönne. Die Glocken der Nicolaikirche schicken mir zwölf dumpfe Töne.
    Ich bin ausgeschlafen. Fühle mich ausgeruht. Keine Kopfschmerzen vom Rotwein.
    Heute koche ich mir einen Kaffee und ein Ei, werfe Brot in den Toaster, bepacke das Frühstückstablett mit Blaubeerjoghurt und Orangensaft und balanciere damit in mein Bett. Für einen Moment meldet sich mein Gewissen. Ziemlich drohend. Ich schalte das Radio an, damit ich es nicht hören muss.
    Die Klänge aus dem Kasten sind sanft und leise. Viel zu leise für das, was da im Hintergrund lauert. Ich reguliere die Lautstärke. Sting. Eigentlich die richtige Musik für ein Frühstück im Bett, aber eher für ein Frühstück zu zweit. Mit Sting fühle ich mich ziemlich allein. Mal wieder. Aber ich schalte nicht ab, schalte nicht um. Nach Stings Konzertmitschnitt verlasse ich für einen Moment mein warmes Bett und hol mir die Kassette aus Lauras Zimmer. Die einzige, die wir von Sting haben. «The Soul Cages ». Die Seelenkäfige ? Oder was soll das heißen?
    Es würde passen.
    Genau so fühl ich mich. Eingesperrt. Meine Seele ist eingesperrt. Und kann sich nicht

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