Tuchfuehlung
Kinder in Tagespflege nehmen. Noch geht Sophia mor gens zu einer Tagesmutter. Sie könnte genauso gut zu mir kommen. Tagesvater? Warum nicht?
Ich trage immer noch mein Halstuch für den Fall, dass Alex mal wieder anklingelt. Mein Vater denkt, dass ich wie immer jeden Morgen in die Schule gehe.
Ich fühle mich wohl. Am Vormittag ruh ich mich aus für meine Arbeit am Nachmittag und Abend. Seit über einer Woche schwänze ich nun schon die Schule. Ich schlafe lange, frühstücke ausgiebig. Aus Lauras Zimmer hab ich mir alle pädagogischen Schriften geholt. Sie hat eine Menge davon. Pädagogik ist einer von Lauras Leistungskursen. Ich habe Lust, mehr über die Kindheit zu erfahren.
Ich habe neuen Stoff gekauft. Dunkelblauen Baumwollstoff. Ja, ich will Sophia zum Geburtstag ein Kleid nähen. Ein Matrosenkleid mit weißem Kragen!
Die Post heute! Eine neue Telefonrechnung.
Aber die fürchte ich nicht. Ich habe Laura nicht mehr angerufen. Inzwischen komm ich ganz gut allein klar.
Heute ein grüner Umschlag und ein Stempel, der mich erschrickt. Geschwister-Scholl-Gesamtschule, Sekretariat. Ich rase die Stufen hoch, so schnell wie lange nicht. Mal wieder Herzklopfen, Schweißausbrüche. Die Rechnung. Doch wieder eine Rechnung, Zeno Zimmermann! Ich reiße den Umschlag auf.
Sehr geehrter Herr Zimmermann,
Ihr Sohn Zeno fehlt nun schon seit einer Woche unentschuldigt. Wir bitten Sie, umgehend eine Entschuldigung nachzureichen. Bitte informieren Sie uns auch über die voraussichtliche Dauer des Fehlens Ihres Sohnes.
Mit freundlichen Grüßen!
Tabea Rosenkranz
(Klassenlehrerin)
PS: Außerdem bitte ich Sie zu einem Gespräch. Die Leistungen Ihres Sohnes sind zurzeit in mehreren Fächern nicht ausreichend. Seine Versetzung ist stark gefährdet.
Das musste kommen, Zeno Zimmermann! Irgendwann musste ein Brief wie dieser im Kasten liegen.
Ich geh in Lauras Zimmer, hol die alte Reiseschreibmaschine aus der Ecke.
Nein, das ist nicht professionell genug. Von Peter Zimmermann, dem großen Optiker, erwartet Tabea Rosenkranz sicher was anderes. Aber ich hab schon lange keinen Computer mehr angefasst. Irgendwann gab es mal einen Grundkurs Informatik. Aber das ist ewig her.
Ich sitze im Zimmer meines Vaters. Den Schalter zum Anschalten hab ich gefunden. Auf dem Monitor erscheinen jetzt bunte Kästchen, die ich nur anklicken muss. Das weiß ich noch. Aber da geht es schon los. Keine Ahnung mehr. Wel ches nun? Jetzt einfach was ausprobieren? Ich trau mich nicht. Dieser private Computer ist meinem Vater heilig. Das allerneueste Modell. Einen neuen Schuldenberg will ich mir nicht aufhalsen.
Was rettet mich? Wer rettet mich? Wen kann ich fragen? Mir fällt niemand ein.
Es klingelt.
An der Haustür klingelt es, als würde jemand verfolgt.
Mensch, Alex! Ich hab doch wirklich genug am Hal s. War um gerade jetzt, in diesem Moment? In die Gegen sprech anlage schleudere ich ein genervtes «Ja!».
« Mach auf, es ist dringend!»
Er keucht die Stufen hoch, stürzt in den Flur. Knallt die Tür hinter sich zu.
«Wirst du verfolgt oder was ?»
«Mach bloß keine Witze, Zeno, es ist ernst. Kannst du mir 100 Mark leihen? Bitte! Und schnell! Ich muss verschwin den, bevor sie mich schnappen!»
«Was ist denn passiert?»
« Hab ‘ ne 8 0 er geklaut und mich erwischen lassen. Nur mal so zum Ausprobieren. Jetzt sind sie hinter mir her. Gib mir die 100, bitte, ich muss weg. Die stecken mich wieder ins Erziehungsheim, und das bringt mich um!»
«Wohin willst du?»
«Ich fahr zu meinem Bruder, das Geld brauch ich für die Fahrkarte, bitte!»
Geht klar, sage ich.
Da fällt mir ein, dass Alex mich retten kann. Ich zieh ihn vor den Computer, halte ihm die Rosenkranz-Mahnung vor die Nase.
«Hilf mir bitte!»
Alex bedient ein paar Tasten, schneller als ich gucken kann.
«Welche Krankheit?»
« Schwerer grippaler Infekt, voraussichtlich noch drei Wochen, momentan unaufschiebbare geschäftliche Termine, melde mich aber bald zu einem Gespräch!»
Keine fünf Minuten, und der Brief ist fertig. Ich unterschreibe. Die Unterschrift von Peter Zimmermann ist perfekt.
Ich gebe Alex den blauen Schein. Im Küchenschrank finde ich drei Tafeln Schokolade, eine Packung Kekse, zwei Tüten Erdnüsse. Im Kühlschrank eine Dose Cola. Ich stopfe alles in einen Leinenbeutel.
«Pass auf dich auf, Alex!»
Alex verschwindet, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Ich geh ans Fenster, schau ihm nach, bis seine blauen Haare verschwunden sind. Dann
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