Tuchfuehlung
befreien.
Es klingelt.
Und ich sitze im Käfig.
12.30 Uhr! Wer kann das sein? Mein Vater? Der hat einen Schlüssel. Die drei? Die haben jetzt Mathe. Die Post? Die neuen Mieter, meine Arbeitgeber?
Ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Sting erreicht meine Ohren nur noch halb. Das Klingeln dafür umso mehr. Irgendjemand hat seinen Finger auf unserem Klingelknopf vergessen. Ich ahne es. Da schwänzt jemand die Mathestun de. Da will jemand eine Antwort. Und er gibt nicht auf. So jemand wie Alex gibt einfach nicht auf. Ich überprüfe mein Outfit. Boxershorts, T-Shirt. Kann ich so zur Tür?
Die Schaufensterpuppe schleppe ich in Lauras Zimmer. An einem Haken hängen Baumwolltücher in allen Farben. Ich greife das schwarze mit den weißen Sternen und wickel es mir um den Hals. Immer noch wildes Klingeln.
Ja. Ja.
Die Gegensprechanlage.
« Bist du taub oder was ? Mir frieren schon die Ohren ab!»
Alex, mal wieder ohne Gefolgschaft. Was ist passiert?
« Bist du krank?»
«Ja, ich lieg im Bett.»
Er folgt mir in mein Zimmer. Guckt irritiert. Sucht er die Geigen?
«Hatte Lust auf Veränderung!»
« Du hast es echt gut. Weißt du das? Wir teilen uns zu dritt ein Zimmer. Bei uns krank zu sein ist nicht besonders verlockend!»
«Ich frühstücke gerade. Willst du auch was?»
Alex ist ausgehungert wie immer. Vier Scheiben Toast, ein Ei, zwei Joghurt, zwei Becher Milch. Keinen Alkohol, keine Zigaretten jetzt.
«Ich muss los!», sagt er um zwei. «Mittagessen.»
An der Tür dreht er sich um.
«Hast du ’ s dir überlegt?»
«Nein! Noch nicht!»
Warum sag ich ihm nicht die Wahrheit? Ich bin ein Feigling. Ja, das bin ich. Aber ich will ihn nicht enttäuschen. Das Geld für seine 8 0 er, das hätt ich ihm schon gegönnt.
Pünktlich um vier steh ich unten vor der Tür. Ein verführerischer Duft empfängt mich schon im Hausflur. Jemand hat einen Kuchen gebacken.
Heute öffnet die Frau.
«Hallo! Ich bin Vera. Komm rein!»
Der Duft kommt aus der Küche. Dort ist der Tisch gedeckt. Es duftet nach Kaffee und Kakao, nach Apfelkuchen mit Zimt. Sophia sitzt schon in ihrem Kinderstuhl. Einen Löffel in der Hand. Sie lacht mich an. Blonde Haare, blaue Augen. Ein freundliches Kind. Ich habe Glück.
Markus und Michael kommen herein. Heute bekleidet. Jeans und Pullover. Schlicht und einfach. Wie ich.
Eine Kerze brennt. Auf dem Regal entdecke ich eine Rose. Diese Küche sieht nach Leben aus. Sie ist geräumig, sie ist gemütlich, helles Holz, und überall Sophias Spuren.
In der Ecke ein roter Ball. Neben ihrem Stuhl ein Rutschauto. Im Regal, zwischen den Kochbüchern, Pappbilderbücher. Bunte Legosteine, hier und da verstreut. Ein Teddy auf der Eckbank. An den Wänden, neben Drucken von Andy Warhol, Sophias erste Versuche mit Stiften auf Papier. Bunte Striche und Kreise. In roten Rahmen, wie die Werke des großen Meisters.
Ich verlasse die vier erst wieder um sieben, als Sophia im Bett liegt und eingeschlafen ist. Mit Teddy im Arm.
Ich habe mich nicht früher von ihnen trennen können.
Und sie haben nicht gedrängt. Wir haben den noch heißen Kuchen gegessen, auf dem die Sahne schnell dahinfloss. Sophia hat erzählt, und ich habe ihre ganz eigene Sprache so fort verstanden. In der nächsten Woche wird sie zwei. Ihr Zimmer ist groß und hell, mit rotem Teppichboden. Ich werde mir angewöhnen, die Schuhe auszuziehen. Um sechs ihr tägliches Bad. Ich habe mich auf die Fliesen gesetzt und immer wieder ihre Schwimmtiere aufgedreht. Habe mich von ihr nass spritzen lassen und mich nicht satt sehen kön nen an ihrem Lachen, den kleinen weißen Zähnen, der glat ten, rosigen Haut, den strahlenden Augen.
Sophia tut mir gut!
Ich weiß immer noch nicht, wer Sophias Vater ist. Warum habe ich nicht einfach nachgefragt?
Um sieben steig ich die 163 Stufen nach oben. Ich w ä r lieber unten geblieben. Aber heute hab ich noch keinen Dienst. Erst morgen. Morgen um vier. Meinen Plan hab ich in der Tasche. In der Woche kann ich 100 Mark verdienen, 400 im Monat. Kein Jahr, und ich bin meine Schulden los. Es geht aufwärts. Ich glaube, es geht aufwärts mit mir.
Mein Vater ist nicht gerade begeistert, aber erst einmal beruhigt. Sein Laden w ä r ihm schon lieber gewesen. Schließ lich ist er doch froh, dass sein Sohn ganz eigenständig einen Job gefunden hat.
Mein neues Leben gefällt mir. Nach einer Woche Sophia sitting seh ich deutlich einen Zuwachs meiner Möglichkei ten. Ja, auch der beruflichen. Ich könnte Erzieher werden. Oder
Weitere Kostenlose Bücher