Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Provinzen und eroberten Gebieten weitgehende kulturelle Autonomie und Selbstverwaltung zu überlassen, solange sie ihre Steuern entrichteten und Soldaten stellten. Dabei war die Steuerlast für die Bauern weit niedriger als in den westeuropäischen Feudalfürstentümern des Mittelalters, was einer der Gründe war, warum es den Osmanen relativ leicht fiel, den Balkan zu erobern. Was diese Staatsform nicht vorsah, war eine nationale Identität der Bewohner des Reiches. Die Untertanen im Reich waren Christen und Muslime, Türken, Bosniaken oder Araber, Bauern oder Handwerker – was sie nicht waren: Sie waren keine Osmanen, so wenig wie die Einwohner des österreichischen Vielvölkerstaates im 18 . und 19 . Jahrhundert sich als Habsburger begreifen konnten. Als die Idee der ethnisch einheitlichen Nation im 18 . Jahrhundert wirkungsmächtig wurde, begannen die Aufstände, Rebellionen und Befreiungsbewegungen innerhalb des Reiches und zwar zuerst im Westen, auf dem Balkan. Die Griechen, Bulgaren und Serben strebten nach ihrem eigenen Nationalstaat. Während die Griechen dabei hauptsächlich von England unterstützt wurden, geriet der übrige Balkan zur russischen Einflusssphäre. Jenseits des heutigen Kroatien, das damals zu Habsburg gehörte und katholisch war, begann das Reich der orthodoxen Kirche. Seit der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen verstand sich das russische Zarenreich als Schutzmacht der Orthodoxie weltweit, und Moskau galt als drittes Rom, nach der Tiberstadt und Konstantinopel. Die Erhebungen auf dem Balkan waren deshalb nicht nur national motiviert, sondern richteten sich auch gegen die Muslime, weshalb die muslimische Bevölkerung in Bosnien und Albanien unter den sogenannten Befreiungskriegen sehr zu leiden hatten. Die Balkankriege setzten eine riesige Vertreibungswelle in Gang, weshalb heute an der Ägäis und in Anatolien viele Dörfer mit »Yeni« (neu) beginnen. So wie New York zu Beginn nichts anderes als das neue York war, gibt es in der Türkei etliche Yeniköy, Yenibosnia und andere »Yeni«-Dörfer, die damit anzeigen, dass hier muslimische Vertriebene aus dem Balkan eine neue Heimat gefunden haben.
In der Türkei wird deshalb in der Armenien-Debatte immer wieder darauf verwiesen, dass die großen Vertreibungen des 19 . und 20 . Jahrhunderts ja nicht mit der Vertreibung der Armenier aus Ostanatolien, sondern mit der Vertreibung der Muslime vom Balkan begonnen habe. Die massive Einmischung Englands, Frankreichs und Russlands auf dem Balkan und später auch im gesamten Osmanischen Reich, hat dazu geführt, dass die türkische Politik bis heute besonders empfindlich auf Einmischungen von außen reagiert. Beispielsweise vergleichen viele Publizisten in türkischen Medien die EU -Unterstützung für Minderheiten in der Türkei, vor allem die europäische Parteinahme für die Kurden, mit der früheren Unterstützung christlicher Minderheiten im Osmanischen Reich durch europäische Mächte, und unterstellen, dass die EU damit heute dasselbe Ziel verfolgt wie die europäischen Staaten damals: die Schwächung und Spaltung des Landes.
Die Jungtürken und die deutsche Karte
Entscheidend für die Entstehung der späteren türkischen Republik war die Ende des 19 . Jahrhunderts aufkommende Bewegung der Jungtürken. Die Bewegung entstand aus der »Osmanischen Gesellschaft für Einheit und Freiheit«, einer der Oppositionsgruppen gegen den Sultan, die anfangs für eine konstitutionelle Monarchie nach westeuropäischem Vorbild eintrat und zunächst auch Vertreter der christlichen Minderheit umfasste. Der gesamten Opposition gemeinsam war, dass sie aus den Balkanprovinzen des Reiches stammte und ihre Ideen überwiegend aus Paris bezog. Ging es anfänglich noch um eine gemeinsame Opposition aller im Osmanischen Reich vertretenen Völker (beispielsweise protestierten die Jungtürken heftig gegen die Pogrome an Armeniern 1895 , die sie der Geheimpolizei des Sultans anlasteten), so setzten sich angesichts der Kriege auf dem Balkan bald diejenigen durch, die analog zu den rebellierenden Völkern nun ihrerseits auf das Türkentum als Basis eines zukünftigen Staates setzen wollten. Damit war die Keimzelle eines türkischen Nationalismus geboren, der dann später mit dem armenischen und noch später mit dem kurdischen Nationalismus kollidieren sollte. Das »Komitee für Einheit und Fortschritt«, wie sich die Jungtürken später nannten, setzte sich in den turbulenten Auseinandersetzungen zwischen Sultan,
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