Tuerkei - Ein Land jenseits der Klischees
Freilichtkinos.
Es gibt einen wunderbaren Film, »Vizontele«, aus dem Jahr 2001 von Yilmaz Erdogan und Faruk Sorak, der den Siegeszug des Fernsehens und die Verdrängung der Freilichtkinos auf dem Land thematisiert. Er zeigt, wie der erste Fernseher in einem anatolischen Dorf Einzug hält, wie der Besitzer des Freilichtkinos vergeblich dagegen opponiert und wie plötzlich mit dem Fernseher die weltweite Realität ins Dorf kommt. Der Film spielt 1974 während des türkischen Einmarsches auf Zypern und gipfelt in einer Szene, als das Dorf gebannt im Teehaus auf dem Bildschirm verfolgt, wie einer der Söhne des Dorfes plötzlich als Gefallener präsentiert wird. Nach langen, erregten Debatten beerdigen die Dörfler dann den Fernseher auf dem örtlichen Friedhof, schließlich war der gefallene Sohn für alle sichtbar in diesem Kasten aufgebahrt.
Das türkische Fernsehen in seiner heutigen Gestalt entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1980 er Jahre. Damals wurden unter dem wirtschaftsliberalen Ministerpräsident Turgut Özal die ersten Privatkanäle zugelassen. Was in der Bundesrepublik vor allem als Einbruch des Kommerzes in die heile ARD / ZDF -Fernsehwelt diskutiert wurde, war in der Türkei eine Kulturrevolution. Denn das bis dahin einzig verfügbare TRT war und ist, anders als die Öffentlich-Rechtlichen in Deutschland, nicht nur mittelbar über den Einfluss der Parteien in den Rundfunkräten staatlich gelenkt, sondern ganz direkt ein von der gerade amtierenden Regierung verordnetes Programm. Die Privaten wirkten da wie eine Befreiung. Binnen weniger Jahre entwickelte sich eine Vielfalt, von der die türkischen Fernsehkonsumenten bis dahin nur hatten träumen können. Von den dümmsten Shows bis zu den besten Nachrichtenkanälen war bald alles im Äther vertreten.
Weil die meisten Sender eher finanzschwach waren und die Besitzer darüber hinaus eine möglichst hohe Rendite erwirtschaften wollten, entwickelten sich zwei Formate, deren Produktion wenig Geld kostet, von denen aber eins wiederum für die gesellschaftliche Entwicklung, entscheidend wurde. Das eine Format sind die Musikshows, ein endloses Geträller sogenannter Volksmusik, die sich in der Türkei mindestens so großer Beliebtheit erfreut wie in Deutschland. Das zweite aber sind Diskussionsrunden. Da man eben nicht genug Geld hatte, um die plötzlich massenhaft vorhandene Sendezeit mit teuren Produktionen zu füllen, gab es jede Menge Diskussionsrunden, die oft stundenlang gesendet wurden. Diese Talk-Shows wurden zu Tabubrechern, die zur Veränderung des politischen Diskurses mehr beitrugen als alle Zeitungen und Bücher zuvor. Plötzlich wurde im Fernsehen über die Kurdenfrage diskutiert, zu einem Zeitpunkt, als das staatliche TRT sich noch mit der bloßen Erwähnung von Kurden schwertat. Frauen mischten sich ein und drängten auf eine stärkere Präsenz in der Öffentlichkeit, die Islamisten gründeten einen eigenen Sender, und so konnte man innerhalb weniger Jahre nun von ernsthaften Politdebatten, über Quizshows mit leicht bekleideten Frauen direkt zu bärtigen Koranlesern umschalten. Die schöne bunte Fernsehwelt war mit Macht in den türkischen Alltag eingebrochen und hat diesen nachhaltiger verändert als alle übrigen Kulturträger zusammen.
Zwar gibt es bis heute eine staatlich eingesetzte Kommission, die die Inhalte der Sender auf Gesetzeskonformität, Sitte und Anstand und die Respektierung der Heiligen Kühe der Republik überwacht. Doch obwohl diese Kommission teils drakonische Strafen verhängte (von hohen Geldstrafen bis zu mehrwöchigen Sendeverboten), konnte sie die einmal entstandene Vielfalt nicht mehr wirklich einhegen. Dabei ist Fernsehen in der Türkei genauso wenig ein natürlicher Verbündeter von Fortschritt und Vernunft wie in Deutschland auch. Die Kanäle dienen entweder streng den kommerziellen Interessen ihrer Besitzer oder sind klare Sprachrohre bestimmter politischer Richtungen.
Darüber hinaus ist das Fernsehen natürlich Teil eines gigantischen Kommunikationsnetzes, durch das sich die gesellschaftliche Stimmungen verstärken. So wie das Fernsehen in den 1990 er Jahren zur Enttabuisierung vieler Themen beigetragen hat, so nimmt es heute die nationalistische Stimmung auf und verstärkt sie wiederum. Dazu gehört die Berichterstattung über die kurdische Separatistenorganisation PKK , deren Anschlägen breitester Raum gegeben wird, bei gleichzeitiger Glorifizierung der Armee ohne die geringste kritische Distanz.
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