Türkisches Gambit
aus.
»Herr Fandorin hat als Gast bei einem türkischen Pascha gelebt«, teilte Warja einschmeichelnd mit.
»Und dich hat der ganze Harem betreut?« fragte der Graf lebhaft. »Erzähl schon, hab dich nicht so.«
»Nicht der ganze, nur die Kütschük Chanum«, knurrte der Titularrat, der sichtlich keine Lust hatte, auf Einzelheiten einzugehen. »Ein sehr liebes, teilnahmsvolles M-mädchen. Und ganz modern. Sie spricht französisch und englisch, liebt Byron. Interessiert sich für Medizin.«
Der Agent zeigte sich hier von einer neuen, überraschenden Seite, die Warja nicht so recht gefallen wollte.
»Eine moderne Frau würde nicht als fünfzehnte Ehefrau in einem Harem leben«, fauchte sie. »Das ist erniedrigend und barbarisch.«
»Bitte um Vergebung, Mademoiselle, aber das ist ein bißchen ungerecht«, warf d’Hévrais auf russisch ein, ging aber gleich zum Französischen über. »Schauen Sie, während meiner jahrelangen Wanderungen durch den Orient habe ich den moslemischen Alltag ganz gut studiert.«
»Ja, Charles, erzählen Sie«, bat MacLaughlin. »Ich erinnere mich an Ihre Artikelserie über das Haremsleben. Sie war ausgezeichnet.« Der Ire war gerührt über seine eigene Großmut.
»Jede gesellschaftliche Einrichtung, auch die Vielweiberei, muß in ihrem historischen Kontext gesehen werden«, begann d’Hévrais in professoralem Ton, aber Surow schnitt eine solche Grimasse, daß der Franzose zur Vernunft kam und normal weitersprach. »Unter den Bedingungen des Orients ist der Harem für die Frau die einzige Möglichkeit zu überleben. Urteilen Sie selbst: Die Muselmanen waren von Anfang an ein Volk der Krieger und Propheten. Die Männer lebten für den Krieg und fielen im Kampf, und zahlloseFrauen blieben als Witwen zurück oder konnten gar nicht erst einen Ehemann finden. Wer sollte sie und ihre Kinder ernähren? Mohammed hatte fünfzehn Frauen, aber keineswegs aus übermäßiger Lüsternheit, sondern aus Menschlichkeit. Er sorgte für die Witwen seiner gefallenen Mitstreiter, und im westlichen Sinne konnten sich diese Frauen nicht einmal seine Gattinnen nennen. Was ist also ein Harem, meine Herren? Sie stellen sich ihn doch so vor: ein murmelnder Springbrunnen, halbnackte Odalisken, die träge Rachat Lokum kauen, das Klirren der Münzketten und der würzige Duft von Parfüm, und das Ganze eingehüllt in einen von Ausschweifung übersättigten Dunst.«
»Und mittendrin der Gebieter des ganzen Hühnerhofs im Kaftan, mit Wasserpfeife, ein seliges Lächeln auf den roten Lippen«, warf der Husar träumerisch ein.
»Ich muß Sie betrüben, Monsieur Rittmeister. Zum Harem gehören außer den Ehefrauen viele arme Verwandte, ein Haufen Kinder, auch fremde, außerdem zahlreiche Dienerinnen, alte Sklavinnen, die dort ihren Lebensabend fristen, und Gott weiß wer noch alles. Sie alle ernährt und unterhält der Mann. Je reicher und mächtiger er ist, desto mehr Kostgängerinnen hat er, und um so schwerer wiegt die Last seiner Verantwortung. Das Haremsystem ist nicht nur human, sondern auch das einzig mögliche unter den Bedingungen des Orients – sonst würden viele Frauen einfach verhungern.«
»Sie beschreiben den türkischen Ehemann als eine Art Charles Fourier«, mischte Warja sich ein. »Wär’s nicht besser, der Frau die Möglichkeit zu geben, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen, als sie wie eine Sklavin zu halten?«
»Die orientalische Gesellschaft ist schwerfällig und nicht zu Veränderungen geneigt, Mademoiselle Barbara«, antwortete der Franzose ehrerbietig, und er sprach ihren Namen sonett aus, daß sie ihm unmöglich böse sein konnte. »Sie hat wenig Arbeitsplätze, um jeden muß gekämpft werden, und gegen die Männer können die Frauen nicht konkurrieren. Überdies ist eine Ehefrau keineswegs eine Sklavin. Wenn der Mann ihr nicht mehr gefällt, kann sie sich immer die Freiheit zurückholen. Dazu genügt es, ihrem Ehegespons das Leben so zur Hölle zu machen, daß er ihr vor Zeugen wütend zuruft: ›Du bist nicht mehr meine Frau!‹ Sie werden zugeben, daß es nicht schwierig ist, einen Mann in solchen Zustand zu versetzen. Danach kann sie ihre Sachen packen und ihrer Wege gehen. Eine Scheidung ist im Orient einfacher als im Westen. Hinzu kommt, daß der Mann allein ist, die Frauen hingegen ein Kollektiv bilden. Ist es da erstaunlich, daß die wirkliche Macht dem Harem gehört und nicht dessen Besitzer? Die wichtigsten Personen im Osmanischen Reich sind nicht der Sultan und der
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