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Türkisches Gambit

Türkisches Gambit

Titel: Türkisches Gambit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Akunin
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erinnerte sie sich an Petja und den Krieg. Mit Willenskraft zwang sie sich, die Stirn zu krausen und an etwas Trauriges zu denken, aber in ihren schlaftrunken ungehorsamen Kopf schlüpfte etwas ganz anderes: Wenn sie sich zu Petjas Ergebenheit Sobolews Ruhm hinzudachte, Surows Verwegenheit, d’Hévrais’ Talente, Fandorins strengen Blick … Doch nein, Fandorin paßte nicht hierher, denn zu ihren Verehrern konnte sie ihn beim besten Willen nicht zählen.
    Mit dem Titularrat war alles irgendwie in der Schwebe. Seine Gehilfin war sie nach wie vor nur nominell. In seine Geheimnisse weihte er sie nicht ein, dabei war er durchaus aktiv. Manchmal verschwand er für eine Weile, dann wieder saß er in seinem Zelt und empfing bulgarische Bauern mit übelriechenden Hammelfellmützen. Bestimmt aus Plewna, dachte Warja, war aber zu stolz, um zu fragen. Was sollte die Geheimnistuerei – Plewnaer Einwohner kamen nicht eben selten ins russische Lager. Selbst der Journalist MacLaughlin hatte einen eigenen Informanten, der ihm höchst wertvolle Nachrichten über das Leben der türkischen Garnison brachte. Dieses Wissen gab der Ire freilich nicht an die russische Führung weiter, wobei er sich auf das »journalistische Ethos« berief, dafür kannten die Leser der »Daily Post«durch ihn den Tagesablauf Osman Paschas ebenso wie die mächtigen Festungswerke, die nicht in Tagen, sondern in Stunden rund um die belagerte Stadt wuchsen.
    Aber auch in der Westgruppe der russischen Armee bereitete man sich diesmal gründlich auf die Schlacht vor. Der Sturmangriff war für heute festgesetzt, und alle sagten, das »Mißverständnis von Plewna« werde jetzt gewiß bereinigt. Gestern hatte Fandorin für Warja mit einer Gerte die türkischen Befestigungen auf die Erde gezeichnet und ihr erklärt, nach seinen Informationen verfüge Osman Pascha über 20   000 Asker und 58 Geschütze, Generalleutnant Krüdener habe jedoch 32   000 Soldaten und 176 Geschütze um die Stadt zusammengezogen, außerdem stießen noch Rumänen dazu. Es sei eine listige, streng geheime Disposition erarbeitet worden, mit einem verdeckten Umgehungsmanöver und einer Scheinattacke. Fandorin erklärte es so gut, daß Warja sofort an den Sieg der russischen Waffen glaubte und nicht mal genau zuhörte, sondern mehr den Titularrat beguckte und rätselte, wer die Blondine aus dem Medaillon sein mochte. Kasansaki hatte etwas Seltsames von einer Heirat gesagt. Ob sie seine Frau war? Dafür war sie viel zu jung, fast noch ein kleines Mädchen.
    Das war so gekommen. Vor drei Tagen war Warja nach dem Frühstück zu Fandorin gegangen und hatte gesehen, daß er angezogen und mit dreckigen Stiefeln auf dem Bett lag. Er war offenbar erst gegen Morgen zurückgekehrt und schlief tief und fest. Schon wollte sie sich leise zurückziehen, da sah sie plötzlich im offenen Hemdkragen auf der Brust des Schläfers das silberne Medaillon. Die Versuchung war gar zu groß. Auf Zehenspitzen schlich Warja zum Bett und ließ dabei kein Auge von Fandorins Gesicht. Der atmete gleichmäßig mit etwas offenem Mund und erinnerte jetzt an einenkleinen Jungen, der sich aus Übermut die Schläfen gepudert hat.
    Überaus behutsam, mit zwei Fingern, nahm Warja das Medaillon, klappte das Deckelchen auf und erblickte ein winziges Porträt. Ein Püppchen, ein Gretchen: goldene Locken, Äuglein, Mündchen, Wänglein. Nichts Besonderes. Warja warf einen mißbilligenden Seitenblick auf den Schläfer und lief dunkelrot an, denn unter langen Wimpern hervor sahen ernste hellblaue Augen mit sehr schwarzen Pupillen sie an.
    Etwas zu erklären wäre dumm gewesen, und Warja ergriff einfach die Flucht, was auch nicht sehr klug war, ihr aber eine unangenehme Szene ersparte. Seltsamerweise verhielt sich Fandorin später so, als hätte diese Episode nie stattgefunden.
    Er war ein kalter, unangenehmer Mensch, der sich selten in ein Gespräch einmischte, und wenn doch, dann sagte er mit Sicherheit etwas, daß Warja die Wut packte. Wenn sie nur an den Streit über Parlament und Volksmacht dachte, der sich während eines Picknicks entzündete (eine große Gesellschaft war in die Hügel gefahren, und Fandorin war mitgeschleppt worden, obwohl er lieber in seiner Höhle geblieben wäre).
    D’Hévrais erzählte von der Verfassung, die der ehemalige Großwesir Midhat Pascha vor Jahresfrist in der Türkei eingeführt hatte. Es war interessant. Sieh mal an, ein wildes asiatisches Land und hat ein Parlament, anders als Rußland!
    Dann

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