Türkisgrüner Winter (German Edition)
eigenen Erinnerungen an jene Zeiten und versuchte parallel zu verstehen, was das alles zu bedeuten hatte.
Als Elyas die Sprache wiederfand, klang er unglücklich. »Inzwischen frage ich mich, ob tatsächlich alles von vorne anfing, oder ob es womöglich nie aufgehört hat.«
Dieser Satz lag wie Blei im Raum und für eine Weile ließen wir uns schweigend von dem Gewicht erdrücken.
Ich war immer davon ausgegangen, dass ich mich erneut in Elyas verliebt hatte. Aber nachdem er diesen Gedanken laut ausgesprochen hatte, kam ich ins Zweifeln. Vermutlich hatte es einen kleinen Teil in mir gegeben, der ihn nie losgelassen hatte.
Und Elyas sollte es genauso ergangen sein? Unbegreiflich, kaum vorstellbar. Und doch deutete weder in seiner Gestik, in seiner Mimik noch in seinen Augen etwas darauf hin, dass er die Unwahrheit sprach. Das Gefühl in meinem Magen wechselte immer wieder zwischen flau und einer sommerlich warmen Empfindung.
Elyas räusperte sich und nahm einen Schluck von dem Kirschsaft. »Gänzlich ohne Kontakt waren wir jedoch nicht«, sagte er. »Wir schrieben uns E-Mails. Ich machte mir Sorgen um dich, wollte wissen, wie es dir geht und wie du mit der Situation, dem Unfall deiner Eltern, zurechtkommst. Hätte ich dich das als Elyas gefragt, wäre ich die letzte Person gewesen, der du eine aufrichtige Antwort gegeben hättest.
Wir unterhielten uns viel über Leben, Tod und die Tatsache, dass innerhalb eines Wimpernschlags alles vorbei sein kann. Zu der Zeit hast du längst nicht mehr mit meinem Alter Ego Luca gesprochen, sondern mit niemand anderem als mir. Alles, was ich dir schrieb, meinte ich so. Auch was ich über ein Treffen sagte.
Anfangs hatte ich mir keine Gedanken über eine mögliche Auflösung gemacht. Warum auch? Du solltest nie erfahren, wer hinter den Mails steckt. Doch alles nahm eine unvorhergesehene Wendung an und das Problem rückte mehr und mehr in den Vordergrund.«
»Aber was hätte ich tun sollen?«, fragte er. »Du hättest mir den Kopf abgerissen und alles, was ich dir jemals geschrieben habe, infrage gestellt. Luca war eine andere Seite von mir, die ich dir persönlich nur sehr selten gezeigt habe. Wie hätte ich dich dazu bringen sollen, mir das zu glauben? Du hättest Luca für einen Witz gehalten. Für eine Erfindung. Ohne wenn und aber.
Mir wurde bewusst, dass ich aus der ganzen Nummer nicht mehr herauskommen würde. Zumindest nicht, ohne großen Schaden anzurichten. Deshalb fasste ich damals, feige wie ich war, einen Entschluss: Ich würde dir noch so lange schreiben, bist du zurück in Berlin wärst. Danach würde ich aufhören. Luca unter den Tisch fallen lassen, als hätte es ihn nie gegeben.«
»So weit, so gut«, setzte er neu an. »Das war aber nicht der einzige Entschluss, den ich fasste. Es gab noch einen. Ein paar Tage vor deiner Rückkehr traf ich eine Entscheidung: Nicht nur Luca sollte verschwinden, sondern auch unser reales Verhältnis musste ein Ende finden. Ich steckte so viel tiefer in allem, als ich es jemals gewollt hätte. Also, was blieben mir noch für Möglichkeiten? Das Sinnvollste war, schnellstmöglich die Kurve zu kriegen, ehe es endgültig zu spät wäre.«
Ich runzelte die Stirn. So sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, dass Elyas nach meiner Heimkehr auf Abstand gegangen war. Hatten wir nicht sogar nur einen Tag später zusammen in seinem Bett gelegen und in den Nachthimmel geschaut?
»Ja ja, du brauchst gar nicht so zu gucken«, sagte er und verdrehte die Augen. »Ich weiß selbst, dass das nicht besonders gut funktioniert hat.«
»Und warum nicht?«
Elyas seufzte. »Kaum warst du wieder in Berlin, kam Alex auf die glorreiche Idee mit dem DVD-Abend. Allein der Gedanke, du würdest bald hier sein, machte mich nervös. Und als du dann vor mir standest …« Er schüttelte den Kopf. »Hätte mich in diesem Moment jemand gefragt, ich hätte das Wort ›Abstand‹ nicht einmal mehr buchstabieren können.«
Mit einem verlegenen Lächeln blickte ich auf meine Finger.
»Von der einen Sekunde auf die andere war es, als wärst du nie fort gewesen«, erzählte er. »Dich zu ärgern und eiskalt bei dir abzublitzen, zu beobachten, wie sich deine Augen verdüstern und diese Falte sich auf deiner Stirn bildet, dich zu riechen, deine Stimme zu hören – ich spürte, wie sehr ich dich vermisst habe. Innerhalb eines Augenblicks war ich dir wieder willenlos ausgeliefert.«
Mein Mund wurde trocken und es
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