Türkisgrüner Winter (German Edition)
anderen heute Abend verschwiegen hatten. Nun sank es langsam und drückend auf uns herab. Es fehlte nicht mehr viel, und man hätte die Luft schneiden können. Sebastian war der einzige, der sich in irgendeiner Form bewegte, in dem er wahllos durch die Gegend blickte. Ich dagegen saß nur da und hoffte, dass möglichst bald irgendjemand von den anderen zurückkehren würde.
Nach einigen Minuten schob Sebastian schließlich seinen Stuhl zurück. »Ehm … Ich glaube, ich habe mein Handy im Auto vergessen.« Er setzte eine entschuldigende Miene auf, erhob sich und lief aus dem Raum. Ich war so perplex, dass ich zu nichts anderem fähig war, als ihm einige Sekunden hinterher zu starren.
Das hatte Sebastian nicht getan? Er hatte mich nicht mit Elyas allein gelassen?
Doch, das hatte er tatsächlich getan.
Stille.
Nur das leise Schnurren des Kätzchens.
Ich war allein mit Elyas.
Er saß direkt neben mir.
Mein Körper gefror mehr und mehr zu einer Statue.
Ich fixierte mein Weinglas.
Stille.
Wie viel Zeit war schon vergangen? Dreißig Sekunden? Zehn Minuten? Fünf Stunden?
Ich hörte das Ticken der Uhr.
Der Zeiger bewegte sich beharrlich und unruhig über das Blatt.
Tick. Tack. Tick. Tack.
Mein Herzschlag passte sich dem Rhythmus an.
Unter dem Tisch faltete ich die Hände und öffnete sie wieder.
Und dann hörte ich auf einmal, wie Elyas Luft zum Sprechen einsog.
»Wie … wie geht’s dir, Emely?«
Seine Stimme ließ mich zusammenzucken, legte sich wie Balsam um meinen Körper und schnitt mir doch mit einer scharfen Klinge ins Herz. Wie unverschämt konnte er sein, mir so eine Frage zu stellen?
Ich begann viel zu schnell zu atmen, hatte aber gleichzeitig das Gefühl, nicht genug Luft zu kriegen. Ich stand auf, stolperte fast über meinen eigenen Stuhl und konnte gar nicht schnell genug das Esszimmer verlassen. Die Haustür war so nah, so einladend die Vorstellung, auf der Stelle zu verschwinden. Aber was sollte ich Alena und Ingo sagen? Was sollte ich meinen Eltern sagen? Im Flur blieb ich stehen und versuchte mich mit kontrollierten Atemzügen zu beruhigen.
Ich konnte nicht einfach abhauen. Tausend Fragen würden auf mich zukommen, die ich nicht beantworten wollte. Also wählte ich den Ort, der sich am weitesten entfernt vom Esszimmer befand: Ingos Arbeitszimmer. Mein Vater und er standen am Schreibtisch und fachsimpelten gerade, als ich zur Tür hereinkam und mich mit einem aufgesetzten Lächeln auf der alten, ledernen Couch niederließ. Sie weihten mich sofort in ihr Gespräch ein. Und mein Herz begann sich mit der Zeit zu beruhigen.
KAPITEL 12
Bescherung
Nach einer halben Stunde mit Ingo und meinem Vater im Arbeitszimmer klopfte Alena an die Tür und gab uns Bescheid, dass der selbstgemachte Glühwein fertig wäre. Die zwei Männer ließen sich das nicht zweimal sagen und liefen voraus, während ich das schleichende Schlusslicht bildete. Jede Treppenstufe brachte mich wieder dem Gefühl näher, das mich vorhin aus dem Esszimmer hatte flüchten lassen. Als ich die letzte erreichte, hatte es mich vollends eingeholt.
Karsten und Ingo wollten ins Esszimmer biegen, doch Alena hielt sie zurück. »Ich habe im Wohnzimmer angerichtet und den Kamin angeschürt. Dort ist es viel gemütlicher. Außerdem habt ihr unseren Christbaum noch gar nicht gesehen.« Sie ging voraus und wir folgten ihr.
Kurz vor dem großen runden Türbogen machte mein Vater einen Schritt zur Seite, um mich vor sich gehen zu lassen. »Alles okay mit dir?«, fragte er leise.
»Geht schon«, sagte ich.
Er sah mich einen Augenblick an, dann spürte ich seine Hand auf der Schulter. Sie wirkte unterstützend, und für einen Moment half es sogar.
»Wenn es dir nicht besonders gut geht, werden wir nicht mehr allzu lange bleiben.« Er zwinkerte und ich fühlte mich mindestens zehn Kilo leichter. Zum ersten Mal spürte ich Hoffnung an diesem Abend. Vielleicht hatte ich alles bald überstanden. Schlimmer konnte es ja ohnehin nicht mehr werden, oder?
Wir gingen ins Wohnzimmer und waren die letzten, die noch gefehlt hatten. Die zwei großen cremefarbenen Sofas, die im Neunzig-Grad-Winkel zueinander standen, waren fast bis auf den letzten Platz besetzt. In der Mitte, auf dem hellen Holztisch, stand ein großer Pott mit dampfendem Glühwein. Alena schöpfte den Inhalt in Glastassen und überreichte sie ihren Gästen. Mit Ligeia auf dem Schoß, saß Elyas auf dem einzigen Sessel im Raum. Mit dem Blick folgte er seinen streichelnden
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