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Tuermer - Roman

Tuermer - Roman

Titel: Tuermer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Danz
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über. Grenzübertritt. Der Häher verrät die Patrioten. Mein Schatten rückt vor. Schnee auf Drahtverhau, Schnee auf Grenzsteinen, Schnee auf Landkarten. Schneegrenzen. Näherrückende Schneefront. In der Nacht wird der Schnee kommen auf dem Grat des Winters. Die Hälfte liegt hinter mir, die Hälfte liegt vor mir, ich weiß nicht, ob ich zurückwill.
Flandern
    Ende Dezember kam ein Brief von Köppen an mich, der erste und auch der letzte. Denn da lebte er schon nicht mehr. Ich wollte seiner Mutter sagen, daß er geschrieben hat, daß es ihm gutgehe, daß sein Korps in Flandern eingesetzt sei. Daß sie bald am Meer seien, wollte ich hinzufügen, daß er ihr eine Muschel, durch die man das Meer hören könne, mitbringen wolle von dort. Aber Köppens Mutter hatte schon eine andere Nachricht erhalten: daß ihr Sohn fürs Vaterland –, bei Dixmude, am 10. November. Ich sagte trotzdem das mit der Muschel und war froh, daß sie den Brief nicht lesen wollte. Denn es stand auch anderes darin, vielleicht, weil es sein letzter war, haben sie es so durchgehen lassen: Ich hab es dir damals nicht erklären können, Jan, aber nun ist es ganz einfach und klar. Nichts Abstraktes mehr. Im Dahindämmern, in der Erschöpfung sehe ich es vor mir: das Vaterland. Nicht wie die steinernen Allegorien, die übermannsgroßen finsteren, sondern einer wie ich ist das Vaterland. Einer von früher aus meinem Dorf, der wendet gerade den Kopf zur Seite, um sich eine Kippe anzuzünden. Der Wind bläst stark von der Seite, und ich kann sein Gesicht nicht sehen. Sehr ruhig nimmt er den ersten Zug, und dann will er sich zu mir wenden, aber jetzt dreht der Wind und wirbelt Sand auf, und nun bin ich es, der sich abwenden muß. Meine Phantasie ist überlastet, Jan, nimms mir nicht übel. Man muß die Dinge nämlich einzeln betrachten. Da gibt es keine Verbindung zwischen den Granaten, den Kugeln und mir, zwischen den Lauten der Getroffenen und dem Schmerz, zwischen meinem Tod und dem Schmerz meiner Eltern. Was fremd aus dem Granattrichter ragt, hat nichts mit dem verzerrten Gesicht eines Sterbenden zu tun. Das zerschossene Land nichts mit Heimat. Der Krieg nichts mit Ehre und Tapferkeit. Der Feind nichts mit uns. Meine Kugel nichts mit dem Tod eines Menschen. Wenn ich mirs nicht so denken würde, wäre ich schon lange aus dem Graben geklettert und in die falsche Richtung nach Hause gerannt.
    Ich versuchte mir vorzustellen, wie der Tod zu ihm gekommen war, aber ich sah nur dieses Bild immer wieder: wie er den Kopf zur Seite wandte, sein Gesicht sah ich nicht und nicht den Mund, der es mir sagen könnte. Dafür konnte ich, wenn ich an ihm vorbeiblickte, das Gesicht des Mannes sehen, der Köppen ansah und ruhig weiterrauchte. Doch schon als ich es sah, vergaß ich es, weil es wie das Übereinanderliegen von vielen Gesichtern war und nichts weiter in sich trug als Augen, Nase, Mund. Eben ein Gesicht, ein Opfer, ein Täter, eines, auf das jede Beschreibung zutraf, eines, das jeder kannte, das keiner verfehlen konnte. Den hättst du sehen müssen, Köppen, für den hättst du es nicht gemacht. Ich weine. Ich verstehe so wenig, daß ich über den Tod von Köppen weinen kann.
Nichtdenken
    Ich werde erst weiterdenken können, wenn das Nichtgedachte nicht mehr soviel Raum einnimmt. Aber die Bilder lassen mich nicht zur Ruhe kommen. Dabei sind es nicht die schlimmen Bilder, die sind jenseits meiner Vorstellungskraft. Es sind die kühlen Symbole einer aus dem Gefüge geratenen Ordnung, die mir jede Ruhe nehmen. An einer Kette trug Köppen seine Marke um den Hals wie jeder andere auch, zwei fest miteinander verbundene völlig symmetrische Teile, das ist der ganze Mensch. Nachts vielleicht, wenn er aus einem kurzen tiefen Schlaf aufwachte und nicht wußte, wer er ist, hat er beim Umdrehen auf seiner Brust das kalte Metall gespürt und danach gegriffen. Seine Finger strichen über die Perforierung, sie ertasteten die Nummer auf beiden Teilen. Für dieses Mal war nichts passiert, eine Ziffer auf zwei Hälften. Vielleicht hat er einmal nachts neben einem im Graben gelegen, und eine Granate zischte knapp an ihm vorbei. Sie traf den anderen. Ich stelle mir nicht vor, wie er aussah, wie Köppen erwachte, ich weiß es nicht. Aber ich stelle mir vor, daß er nach seiner eigenen Marke griff. Er versuchte sie zu zerbrechen, sich dadurch auszulöschen. Es gelang ihm nicht mit einer Hand, die andere konnte er nicht bewegen. Er konnte nicht sehen, warum nicht, vielleicht war sie

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