Tuermer - Roman
nicht mehr da. Die Marke aber blieb ganz, und Köppen kam nach Stunden zu sich, die rechte Hand um die Marke gekrampft, daß keiner sie hätte teilen können. Die Leiche neben ihm hatten die anderen schon weggebracht. Er fragte nach der Hälfte der Marke des anderen, er wollte sie der Mutter schicken. Aber er bekam die Antwort: Die Marke, Junge, das laß man, die war das einzige, was ganz geblieben war. Wenn wir die nach Hause schicken, kommen sie dort gar nicht zur Ruhe, weil sie nicht verstehen, warum er keinen Mund mehr hatte, in den wir die eine Hälfte hätten hineinlegen können.
Und Köppens Marke? Hatte er noch einen Mund, in den hinein man eine Hälfte hätte legen können? Und hatten die anderen noch die Zeit, vor der Totenstarre die Marke hineinzulegen? Oder hat er nach dem Angriff einfach nur gefehlt, ohne daß einer seine Leiche gefunden hätte, er und seine heile Marke, die nun unzerbrochen auf einem französischen Acker liegt. Vielleicht ist er desertiert, vielleicht lebt er in Frankreich und gräbt weit im Westen einen Acker um vor den Winterfrösten.
Lachen
Erst Tage später verstand ich, daß Köppen tot ist. Und fühlte mich wie allein auf der Welt. Ich wollte zu Echo, aber ich konnte sie nicht finden. Überall auf dem Dachboden suchte ich und rief ihren Namen. Ich fand sie nicht. Ich ging in mein Zimmer und setzte mich auf die schmalen Holzbretter meines Fenstererkers. Ich wollte nicht hinaussehen, ich wollte den Maschinengang der Stadt nicht sehen. Mein Blick fraß sich in das gebeizte Holz des Fensterrahmens. Es fiel mir ein, wie Köppen einmal dort unten stand. Er rief etwas, aber ich konnte ihn nicht hören, und wie konnte er wissen, daß ich ihn sehen würde, gerade in diesem Augenblick. Er hatte noch nie dort unten nach mir gerufen. Ich faßte nach dem Fenstergriff und wollte öffnen. Ich war aufgeregt: Köppen wollte mir etwas sagen. Ich rüttelte am Griff und am Rahmen, aber das Fenster öffnete sich nicht. Heftig, hektisch versuchte ich das Fenster zu öffnen. Ich wußte nicht, ob er mich sieht, ob er wieder gehen würde, dieses eine Mal, da er mir etwas sagen wollte. Ich schwitzte, mein Atem hatte die Scheibe beschlagen. Die Zeit begann sich zu dehnen. Köppens Rufen wurde zum Schreien. Jetzt hörte ich es: Mutter, schrie er, Mutter, verzweifelt. Dann brach er zusammen. Nach langer Zeit, in der er reglos lag und ich verzweifelt am Griff zog, setzte das tastende Solo einer Geige ein, ein feiner, schwacher Ton. Köppen breitete die Arme aus, er wurde leicht, auf Zehenspitzen begann er sich zu drehen. Der Geigenton wurde kräftiger, er fand eine Melodie, glitt in sie hinein und richtete sich an ihr auf. Köppen bewegte seinen Oberkörper, er drehte sich, er tanzte. Er sah nicht zu mir hoch, er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, um in den Himmel zu sehen. Allmählich bemerkte ich eine Lücke zwischen seinen Bewegungen und dem Spiel der Geige, sein Tanz wurde gröber, er löste sich von der Musik. Er taumelte, den Kopf noch im Nacken, er riß die Arme hoch und brach zusammen. Anders als das erste Mal, schwer wie ein von Kugeln getroffener Vogel aus großer Höhe. Wie ein nasser Lappen fällt er und dreht sich auf den Rücken. Es ist zu spät, ich will die Hände vom Fenstergriff nehmen. Aber sie haben sich so darum gekrampft, daß ich sie mit dem Griff wegziehe und das Fenster sich nach innen öffnet. Einfach, widerstandslos. Und ich merke, daß ich, statt zu ziehen, dagegen gedrückt hatte, um es aufzustoßen. Köppen, Köppen rufe ich, weit aus dem Fenster gelehnt. Er bewegt sich, steht langsam auf, er lacht, lacht laut, er schüttelt sich vor Lachen. Jan, Jan ruft er unter Prusten nach oben. Komm herunter. Ich muß dir erzählen, was mir passiert ist. Du glaubst es nicht. Nein, sagte ich, indem ich langsam das Fenster schloß und die zweihundertvierundsechzig Stufen nach unten ging. Ich glaube es nicht.
1915
Königin
Ich habe sie schon einige Tage lang beobachtet. Sie grub mühsam ein Loch in die Grabenwand. Unermüdlich brachte sie Erde nach draußen. An manchen Tagen war der Boden noch gefroren, aber sie grub. Ich legte mein Ohr an die kalte Erdwand und hörte das Kratzen ihrer Kieferzangen. Mir wurde warm bei diesem Geräusch. Ich roch den staubigen Dachboden, den Sommer. Der Winter mußte vorbei sein, sie würde sonst nicht mit dem Nestbau beginnen. Es war eine Deutsche Wespe, kräftiger und länger als die leichten Königinnen, die oben auf dem Turm lebten. Ihre Zeichnung war
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