Tuermer - Roman
über die Schulter des Infanteristen, oder niedriger, von seinem Stiefel aus, wo beim Laufen das Gras sich willig zur Seite streckt oder vom letzten Mann im Gänsemarsch aus, der ins Haar seines Vordermanns blickt und sonst nichts sieht. Oder vom Fähnchen auf der Karte aus. Aber sie machten es noch anders: sie modellierten eine Landschaft, sie verließen sich also nicht auf die Höhenlinien der Karten und schon gar nicht auf Photographien, sondern bildeten eine Landschaft nach, in der sie die Attribute von Landschaft – Bäume und niedrige Sträucher – verteilten. In diese Landschaft für Zinnsoldaten stellten sie Kompanien, Kolonnen, Truppen und Bataillone. Ich meine, diese Bezeichnungen stellten sie in ihre pädagogische Landschaft. Und allmählich haben die Leute es verstanden, haben sich unter Truppen nichts weiter als einen Plural vorgestellt, einen unzerstörbaren Plural, der stets vollständig war, denn seine einzelnen Glieder waren nur das Muster in der Landschaft, das sich zwar veränderte, sich auch bewegte und sogar vorwärts, aber es war am Ende doch ein Truppenmuster. So ist es, Jan.
Ich wußte, weiter würde er nun nichts mehr sagen, denn er betrachtete eingehend seine auf dem Tisch liegenden Hände, als stelle er Experimente mit ihnen an. Mutter war aufgestanden und hatte den Tisch leergeräumt, während Vater das erste Mal seit langer Zeit mir etwas erklärt hatte. Ob er ihr etwas erklärte? Ich hielt es für unwahrscheinlich. Und ich konnte darüber jetzt auch nicht nachdenken. Ich mußte jetzt zu Echo. Ich stand auf, Mutter wusch ab, Vater saß am Tisch und betrachtete seine Hände, er sah nicht zu mir auf. Ich wollte etwas sagen, wahrscheinlich wollte ich mich bedanken, aber als Vater nicht aufsah, wußte ich nicht mehr, wofür, und ging wortlos die Treppe hinunter auf den Dachboden.
Ich fand Echo nicht gleich, sie ließ sich immer weniger von mir finden, ich gewöhnte mich schon fast daran. Später kauerte sie sich leise neben mich, legte ihren Kopf in meinen Schoß. Sie sah schweigsam aus, sie würde heute wieder nicht reden. Wir saßen lange so, die Kälte tat schon nicht mehr weh, sie hatte uns zusammengefroren. Ich konnte Echo nicht mehr fühlen, ich sah sie daliegen, aber sie war reglos wie eine schöne Vorstellung, ihre Augen ein zugefrorener See. Ich versuchte nicht, mit ihr zu sprechen, denn ich hätte es seltsam gefunden, allein auf einem leeren Dachboden zu sprechen. Ich spürte, daß auch mein Schmerz darüber eingefroren war. Es war, als wüßte ich um die große Wunde an meiner Seite, aber das Eis ließ sie mich nicht fühlen. So trauerte ich gleichförmig, wie man auch froh sein kann. Vaters Gedanken schienen mir wie herausgefallen zwischen den Buchdeckeln eines seit Jahren nicht mehr entliehenen Buches, das nur noch als Titel in der Bibliothekskartei von Händen berührt wird.
Schauen
Seit Vater nicht mehr Zeitung las, tat er gar nichts mehr. Oder vielmehr versah er seinen Dienst als Türmer so, daß es aussah, als würde er nichts tun. Doch das täuschte. Seine Meldungen waren auf die Sekunde pünktlich, so teilnahmslos er auf dem Umgang entlanglief und übers Land sah, so genau bemerkte er die kleinste Veränderung. Er wußte es schon, wenn ich aus Angst, er hätte nichts mehr im Blick, ihn auf etwas aufmerksam machte. Er nahm gar keine freie Zeit mehr. Er hatte neuerdings begonnen, seinen Dienst ernstzunehmen. Er tat nichts als seinen Dienst, und mir kam es schlimmer vor als jede Unternehmung, in die er sich vorher gestürzt hatte. Ich erzählte ihm von den Fortschritten der Brieftaubenphotographie, von ihrem Einsatz in der Luftaufklärung, ich dachte, er könne sich dafür begeistern. Aber Vater wehrte ab: Das ist nicht meine Sicht. Ich interessiere mich nur für die Straßen da unten, die Häuser, den Verkehr. Ich errichte ein Abbild der Stadt in meinem Kopf. Wenn ich die Augen schließe, stehen schon ganze Stadtteile komplett, besonders der Osten und Norden. Meine Sorge ist nur, daß ich es auch schaffe, die restlichen weißen Stellen mit Bildern zu füllen. Es wird diesen Blick nicht mehr lange geben. Ich will ihn aber in meinem Kopf mit hinunternehmen, und zwar unauslöschlich. Damit die Erde, wenn ich drunterliege und mein Gehirn aufweicht, verdaut und wieder ausgeschieden wird, einmal vom Himmel aus auf sich herabsehen kann. Ich bin nämlich der letzte, Jan, der dieses Bild in seinem Kopf hat. Hier oben werden nur noch die Vögel sein, und die Stadt erkennt sich
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