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Tuermer - Roman

Tuermer - Roman

Titel: Tuermer - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniela Danz
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nicht wieder nach diesem Krieg.
Wachen
    Vater. Dort wo ich jetzt bin, bist du viel näher. Bist du in mir. Seit wir die tiefen Gräben haben, befestigt wie Wohnungen, als hätten wir uns hier für lange eingerichtet: all die Vorkehrungen, die Anlagen, die Regelungen. Seit das Warten der eigentliche Kampf geworden ist, bist du es, der aus meinen Augen durch den schmalen Streifen zwischen zwei Sandsäcken vom Postenauftritt aus über das flache Land sieht. Viel zuviel Zeit zum Denken, vielzu wenig Zeit für ein Stückchen richtiges Leben. Keine Minute frei am Tag und doch fast immer müßig bis auf die wenigen Stunden, in denen sich alles überschlägt und die man gleich danach wieder vergessen muß, als wären sie das wüste Produkt einer Nacht. Wirklicher ist das Warten, das Wachen. Ich erinnere mich, wie ich dich manchmal gegen Morgen, wenn mein Schlaf schon leicht war, zum Kerzling auf den Umgang habe kommen hören: Gehen Sie doch heim, Mann, hast du zu ihm gesagt. Ich mach das hier weiter. Dabei hast du ihn unbedingt als zweiten Beiwächter einstellen wollen, obwohl es schon für uns noch weniger als vor dem Krieg reichte. Kerzling hatte es immer gern angenommen, früher gehen zu dürfen. Wenn ich noch nicht wach war, haben mich spätestens seine schweren Schritte die Steige hinunter mit dem unregelmäßigen Rhythmus wegen seines Hüftschadens geweckt. Sie schienen gerade auf mein Bett zuzukommen, von der geschützten Seite durch die Wand her, aber dann wurden sie doch wieder leiser. Ich lag wach und versuchte zu verstehen, warum du ihn vorzeitig heimgeschickt hattest. Im Sommer ließ es sich ja verstehen, die Stunden im Morgengrauen, bis der Tag begann, waren verheißungsvoll, voll Zuversicht auf ein anderes, ein klareres Leben. Aber im Winter, bei der kaputten Dunkelheit, die alles Schwebende der in den Schlaf gleitenden Stadt verschluckt hatte und nur die widerwilligen Geräusche von früher Pflicht und das Lasten eines langen Arbeitstages herausspuckte, im Winter bei dem lebensfeindlichen Morgenfrost habe ich es nicht verstanden. Ich dachte, als der Winter begann und der Kerzling schon seit einem Vierteljahr da war, es wäre wegen seiner Hüfte, weil du wußtest, daß er es aus blanker Not machte. Aber es war kein Mitleid, das hätte mich auch überrascht an dir, es war etwas anderes. Ich dachte darüber nach in diesen Stunden, in denen ich nicht wieder einschlafen konnte, weil du so fremd warst da oben auf dem Umgang mit deinen blauen Augen. Jetzt aber stehe ich hier in der eisigen Luft und sehe auf das wirkliche Land. Wirklich ist das Land nur in diesen Wachstunden am Morgen, wenn aus den Unterständen die Schlafgeräusche dringen, ein einsames Gerangel ums bare Überstehen, ein zähes selbstsüchtiges Ringen um Schlaf, die Angst vor einem kraftlosen Aufwachen, die Angst, nicht stark genug zu sein für den plötzlichen Angriff. Und die Luft konserviert den Geruch, der bei Westwind so betäubend ist, daß man sofort das Denken einstellt. Nur am Morgen ist er da, der Geruch, eingeschlagen in ein frisches weißes Tuch aus kalter Luft, gefrorener Erde, überfällt er einen in seiner Wirklichkeit. Auch wenn er der Nase nicht so unerträglich ist wie am Tag bei stärkerem Wind und mehr Wärme, ist er jetzt dem Geist unerträglicher und dringt in jeden Gedanken, schießt wie ein vergifteter Pfeil durch die Atemwege und trifft ins Innere, wo das Gift aus der Pfeilspitze ins Nervensystem eindringt. Der Geruch nach überwinterten Äpfeln. Wegen der Dichte der Luft kommt das und brennt auf der Zunge, daß man nicht weiß, wie Frost oder wie Feuer, denn die verheilten Verletzungen öffnen sich wieder und Rost läuft heraus und über die Zunge, die ihn ableckt. Es ist mit diesem Geschmack wie mit dem Geruch: in der Morgenkälte schmeckt er wie gefrorene Schokolade, man weiß den Geschmack, man spürt ihn im Magen. Es ist die Luft, die das eingefrorene Leben durch die Atemwege und die Speiseröhre transportiert. Wenn ich dann durch den schmalen Spalt über die leere Landschaft sehe, ganz hinten mit einem dunklen Rand vom Wald, ist es mir manchmal, als würden meine Augen blau. Langsam, von innen her, genau umgekehrt wie das Zufrieren eines Sees. An den Rändern noch warmes Braun, doch von der Mitte breitet es sich Ring um Ring über die Iris und es ist, als könnte ich die Lider darüber nicht mehr schließen, bis das Blau ganz eingebrannt ist. Dann sehe ich aus deinen Augen, Vater. Dann verstehe ich, daß du gerne

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