Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
stoßen. Bei dieser Sicht und in diesem Straßengewirr können wir sie leicht abschütteln«, schlug Cal leise vor und schaute hinter den mit Feuchtigkeit beschlagenen Augengläsern seiner Gasmaske nach links und rechts. »Wir rennen einfach immer weiter.«
»Ach ja?«, erwiderte Will. »Du glaubst also wirklich, du könntest einen dieser Hunde abhängen? Das möchte ich sehen.«
»Hm«, gab Cal wütend zurück.
»Hör zu, wir haben keinen Schimmer, wo wir sind, und wenn wir überstürzt losrennen, laufen wir wahrscheinlich in eine Sackgasse oder so was«, fuhr Will fort.
»Aber wenn wir erst einmal im Labyrinth sind, kriegen sie uns nie«, beharrte Cal.
»Mag sein, aber bis dahin müssen wir es erst einmal schaffen – und soweit wir wissen, ist das noch ein verdammt weiter Weg.« Will konnte den absurden Vorschlag seines Bruders einfach nicht fassen. Ihm ging auf, dass noch vor wenigen Monaten er vielleicht derjenige gewesen wäre, der sich für den verrückten Sprint durch die Straßen und Gassen der Stadt starkgemacht hätte. Irgendwie und unmerklich hatte er sich verändert. Nun war er der Nüchterne, und Cal war der impulsive, dickköpfige Junge, voll stürmischer Zuversicht und bereit, alles zu riskieren.
Der wütende, im Flüsterton geführte Wortwechsel setzte sich fort und wurde immer hitziger, bis Cal schließlich nachgab. »Leise, leise« würden sie die Sache nun angehen; sie würden sich ganz langsam bis an den Stadtrand bewegen, das Geräusch ihrer Schritte auf ein Minimum begrenzen und im Nebel verschwinden, falls sich ihnen irgendjemand oder irgendetwas näherte.
Während sie über mehrere Geröllhaufen stiegen, schaute Bartleby nervös in alle Richtungen, schnupperte in der Luft und am Boden und blieb dann abrupt stehen. Sosehr Cal auch an der Leine zog, der Kater weigerte sich weiterzugehen. Er duckte sich dicht auf den Boden, als jage er etwas, hielt den breiten Kopf tief gesenkt und streckte den spindeldürren Schwanz. Seine Ohren waren gespitzt und drehten sich wie Radarschüsseln.
»Wo sind sie?«, flüsterte Cal hektisch. Will gab keine Antwort, sondern griff stattdessen in die Seitentaschen von Cals Rucksack und zog zwei große Feuerwerkskörper heraus. Außerdem nahm er Tante Jeans kleines Einwegfeuerzeug aus einer Innentasche seiner Jacke und hielt es einsatzbereit in der Hand.
»Komm schon, Bartleby«, flüsterte er dem Kater ins Ohr, während er neben ihm kniete, »es ist alles in Ordnung.«
Bartlebys wenige Haare sträubten sich. Es gelang Cal, den Kater herumzuziehen, und wie auf rohen Eiern schlichen sie wieder zurück, wobei Will mit den Feuerwerkskörpern in der Hand die Nachhut bildete.
Sie gingen an einer Mauer entlang, die eine sanfte Kurve beschrieb. Mit der freien Hand ertastete Cal das grobe Mauerwerk, als handelte es sich um eine für ihn unverständliche Blindenschrift. Will folgte ihnen rückwärts und kontrollierte so den Bereich hinter ihnen. Da er dabei nur die Furcht einflößenden Nebelschwaden sah und zu dem Schluss kam, dass es sinnlos war, unter diesen Bedingungen auf das Sichtvermögen zu setzen, drehte er sich schnell wieder um, stolperte jedoch prompt gegen einen Granitsockel. Aus dem Nebel ragte das höhnisch grinsende Gesicht eines riesigen Marmorkopfes hervor und ließ ihn zurückfahren. Will musste über sich selbst lachen, trat vorsichtig um den Granitblock herum und stellte fest, dass sein Bruder in nur einem Meter Entfernung auf ihn wartete.
Sie waren etwa zwanzig Schritte gegangen, als der Nebel sich merkwürdigerweise zurückzog und eine kopfsteingepflasterte Straße vor ihnen freilegte. Hastig wischte Will sich die beschlagenen Gläser seiner Gasmaske und ließ seinen Blick über den zurückweichenden Saum der Nebelwand wandern. Nach und nach kamen der Straßenrand und die Fassaden einiger benachbarter Gebäude in Sicht. Eine Welle der Erleichterung durchfuhr die Jungen, als sie zum ersten Mal seit Betreten der Stadt ihre Umgebung sehen konnten.
Und dann gefror ihnen das Blut in den Adern.
Nicht einmal zehn Meter entfernt und nur allzu real und entsetzlich deutlich tauchten sie vor ihnen aus dem Nebel auf: Eine Patrouille von acht Styx hatte über die gesamte Breite der Straße Posten bezogen. Sie standen reglos da wie Raubtiere und beobachteten aus ihren runden Schutzbrillen die Jungen, die ihren Blick stumm erwiderten.
In ihren grau-grün gefleckten langen Mänteln, merkwürdigen Käppchen und finsteren Atemmasken sahen sie aus wie
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