Tunnel - 01 - Das Licht der Finsternis
ging zum Schreibtisch und blätterte beiläufig durch die Unterlagen. Neben mehreren fotokopierten Zeitungsartikeln über Highfield entdeckte er ein paar sepiabraune Aufnahmen von alten Häusern sowie Teile zerfledderter Landkarten und Stadtpläne. Eine der Karten weckte sein Interesse. Am Rand hatte jemand mit Bleistift ein paar Notizen gemacht, und Will erkannte die krakelige Handschrift seines Vaters.
Martineau Square – der Schlüssel? Belüftungssystem, aber wofür?, las Will stirnrunzelnd, während er mit dem Finger über die netzwerkartigen Bleistiftlinien fuhr, die sein Vater in die Häuser auf beiden Seiten des Platzes eingezeichnet hatte. »Worauf wollte er hinaus?«, fragte er sich.
Er warf einen Blick unter den Tisch, fand die Aktentasche seines Vaters und leerte ihren Inhalt – hauptsächlich Zeitungen und Magazine – auf den Boden. In einer Seitentasche entdeckte er etwas Wechselgeld in einer kleinen braunen Papiertüte und eine Handvoll leere Schokoriegelverpackungen. Dann ging er in die Hocke und überprüfte die Archivboxen, die unter dem Tisch gestapelt waren. Er holte jede einzelne hervor und durchsuchte ihren Inhalt.
Er wurde von seiner Schwester unterbrochen, die ihm von der Kellertür aus zurief, er solle endlich hochkommen und sein Abendessen essen, ehe es kalt würde. Doch bevor Will ihrem Wunsch nachkam, ging er noch rasch zu der Tür, die in den Garten führte, um einen Blick auf die Kleidungsstücke zu werfen, die dort hingen. Der Grubenhelm seines Vaters und sein Overall waren verschwunden.
Als er wieder im Flur stand, empfing ihn eine Kakofonie aus Applaus und Gelächter, die durch die geschlossene Wohnzimmertür drang.
Schweigend aßen Will und Rebecca ihr Abendessen in der Küche, bis Will seine Schwester ansah. Sie hielt eine Gabel in der linken und einen Bleistift in der rechten Hand, da sie gleichzeitig ihre Mathehausaufgaben erledigte.
»Rebecca, hast du vielleicht Dads Helm oder seinen Overall gesehen?«, fragte er.
»Nein, die Sachen verwahrt er immer im Keller. Warum?«
»Im Keller sind sie nicht«, erwiderte Will.
»Vielleicht hatte er noch irgendwo anders eine Grabungsstätte und hat sie dort liegen gelassen.«
»Eine weitere Grabungsstätte? Nein, davon hätte er mir erzählt. Außerdem, wann hätte er denn Gelegenheit gehabt, an einem weiteren Tunnel zu arbeiten? Er war doch immer hier oder im Museum – sonst ist er doch nirgendwo gewesen, oder? Jedenfalls nicht, ohne mir davon zu erzählen …« Will verstummte, da Rebecca ihn eingehend musterte.
»Ich kenne diesen Blick. Du hast irgendeine Idee, stimmt’s?«, fragte sie misstrauisch.
»Nein, nein«, erwiderte er. »Wirklich nicht.«
12
Am nächsten Tag wachte Will früh auf. Da er nicht an das Verschwinden seines Vaters erinnert werden wollte, sprang er rasch in seine Arbeitskleidung und rannte voller Energie nach unten. Er hoffte auf ein schnelles Frühstück, um dann vielleicht zusammen mit Chester den blockierten Tunnel auf dem Gelände der Vierzig Krater wieder freizulegen. Rebecca war bereits in der Küche; an der Art und Weise, wie sie ihn in dem Moment abfing, als er die Treppe hinunterkam, konnte er erkennen, dass sie auf ihn gewartet hatte.
»Es liegt jetzt bei uns, etwas wegen Dad zu unternehmen«, sagte sie, woraufhin Will sie mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck ansah. »Mum wird von sich aus nichts tun – sie ist vollkommen übergeschnappt.«
Will wollte einfach nur aus dem Haus verschwinden; verzweifelt versuchte er, sich einzureden, dass alles völlig normal sei. Seit jenem Abend, als ihre Eltern im Streit auseinandergegangen waren, hatten Rebecca und er für sich selbst gesorgt. Sie gingen weiterhin zur Schule und der einzige Unterschied zum üblichen Tagesablauf bestand darin, dass sie ihre Mahlzeiten ohne ihre Mutter einnahmen. Diese hatte sich regelmäßig in die Küche geschlichen, sich am Kühlschrank bedient und das Mitgenommene – wie nicht anders zu erwarten – vor dem Fernseher verspeist. Es war offensichtlich, dass sie nicht verhungerte, da neben ganzen Brotlaiben und Margarinedosen auch Pasteten und Käsestücke aus der Küche verschwunden waren.
Rebecca und Will hatten ihre Mutter ein paarmal auf dem Flur gesehen, als sie im Nachthemd und mit abgelatschten Pantoffeln zur Toilette schlurfte. Bei diesen kurzen Begegnungen hatte sie nicht mehr als ein kurzes Nicken für die beiden übrig gehabt.
Rebecca lehnte sich an den Geschirrspüler. »Ich habe einen Entschluss
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