Tunnel - 02 - Abgrund

tränende Augen und schnipste mit seinen verbliebenen Daumen- und Zeigefingerstummeln.
    Im nächsten Moment hörte Sarah ein klickendes Geräusch hinter ihr auf dem Steinboden und wirbelte herum. Ein Schatten flitzte durch die Tür.
    Es war der Jäger, der riesige Kater, der ihr an der Erdoberfläche zu Hilfe gekommen war. Er hielt kurz inne, um sich umzuschauen, schnupperte prüfend die Luft und schoss dann direkt auf Sarah zu. Zutraulich strich er ihr um die Beine und rieb sich so hingebungsvoll an ihrem Knie, dass ihr Stuhl nach hinten geschoben wurde.
    »Du!«, stieß Sarah überrascht und gleichzeitig erfreut hervor. Sie hatte angenommen, dass die Styx den Kater in der Erdhöhle getötet hätten. Doch stattdessen schien genau das Gegenteil der Fall zu sein: Im Vergleich zu der armseligen Kreatur, die ihr in Übergrund Gesellschaft geleistet hatte, war dies ein völlig anderes Tier.
    An der Art und Weise, wie der Kater sich hielt und blitzartig losflitzte, um irgendetwas in einer Ecke des Raums zu beschnüffeln, erkannte Sarah, dass die Styx ihn sorgfältig aufgepäppelt hatten. Sein Fell wirkte nun deutlich glänzender, und auch die eiternde Wunde an seiner Schulter war ordentlich versorgt worden: Auf dem Gelenk thronte eine dicke Kompresse, die jemand mit einer großzügigen Menge grauer Binden um die Brust befestigt hatte. Da der Kater auch ein nagelneues Lederhalsband trug, was in der Kolonie eigentlich unüblich war, ging Sarah davon aus, dass sich das Tier eher in der Obhut der Styx als bei den Kolonisten befunden haben musste.
    »Er heißt Bartleby. Wir dachten, er könnte uns eventuell nützlich sein«, sagte der Styx.
    »Bartleby«, wiederholte Sarah und warf dann dem Styx einen fragenden Blick zu.
    »Natürlich wird das Tier ganz begierig sein, sein junges Herrchen – deinen Sohn – wiederzufinden, und zwar mithilfe seines ausgezeichneten Geruchssinns«, erklärte der Mann.
    »Ah, verstehe«, sagte Sarah nickend, »das ist natürlich richtig.« Die Hilfe eines Jägers war bei der Suche in den Tiefen von unschätzbarem Wert, zumal Cals Spur diesem Kater einen ganz besonderen Anreiz bot.
    Sie schenkte dem Styx ein Lächeln und rief dann: »Bartleby, bei Fuß!« Gehorsam kehrte der Kater zu ihr zurück, setzte sich neben sie und wartete eindeutig auf weitere Befehle. Sie kraulte die raue Haut seines breiten, flachen Schädels. »So heißt du also … Bartleby?« Er blinzelte sie mit seinen riesigen Augen an, und ein lautes Schnurren drang aus seiner Kehle, während er sein Gewicht von der einen Vorderpfote auf die andere verlagerte. »Du und ich … wir beide gemeinsam werden Cal schon zurückholen, stimmt’s, Bartleby?«
    Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand. »Und gleichzeitig werden wir eine fette Ratte aus ihrem Versteck treiben.«
     
    Im Rosengarten vor dem Humphrey House ließen sich mehrere Tauben flatternd auf der Vogelfutterstelle nieder, die der Koch regelmäßig mit altem Brot und anderen Essensresten aus der Küche bestückte. In ihrer Ruhe gestört, schaute Mrs Burrows auf und versuchte, sich mit ihren geröteten und geschwollenen Augen auf die Vögel zu konzentrieren.
    »Gottverdammmich! Ich kann überhaupt nichts sehen, ganz zu schweigen irgendetwas lesen!«, murrte sie und blinzelte erst durch das eine Auge und dann durch das andere. »Dieser dreckige Mist-Virus!«
    Etwa eine Woche zuvor hatten die Fernsehnachrichten erstmals von einer mysteriösen Virusinfektion berichtet, die, soweit man das beurteilen konnte, ihren Ursprung wohl in London genommen hatte und sich nun wie ein Lauffeuer im restlichen Land verbreitete. Der Virus hatte sogar schon auf die Vereinigten Staaten und den Fernen Osten übergegriffen. Experten zufolge war diese Erkrankung, eine Art starke Bindehautentzündung, zwar nur von kurzer Dauer – maximal vier bis fünf Tage bei einem gesunden Erwachsenen –, doch die Geschwindigkeit, mit der sie sich ausbreitete, galt in Fachkreisen als äußerst beunruhigend. In den Medien wurde der Virus als »Ultra-Bazillus« bezeichnet, weil er offenbar die einzigartige Eigenschaft besaß, sowohl über die Luft als auch durch Wasser übertragbar zu sein – eine unschlagbare Kombination für jeden Virus, der es weit bringen wollte.
    Und dieselben Experten ließen noch etwas verlautbaren: Selbst wenn sich die Regierung zur Herstellung eines Impfstoffs entschließen würde, dann könnte dieser Vorgang – von der vollständigen Identifizierung eines neuen Virus bis zur