Tunnel - 02 - Abgrund
vor ihnen um den Kopf trug, ließen sich keine Geländemarken ausmachen. Das grelle Licht der Lampe verhinderte, dass sie das Gesicht des Mannes erkennen konnten; sie sahen nur, dass er eine lange Jacke trug, die er mit einem Gürtel um seine Mitte zusammengebunden hatte. An diesem Gürtel hingen etliche Beutel, aus denen er nun etwas herausholte – eine Leuchtkugel. Einen Moment hielt er sie in seiner behandschuhten Hand, dann griff er sich an die Stirn und schaltete die Helmlampe aus.
Als er den breiten Schal abnahm, der um Mund und Hals gewickelt war, wanderte sein forschender Blick zwischen den beiden Jungen hin und her. Der Mann hatte ziemlich breite Schultern, doch vor allem sein Gesicht faszinierte sie: Es war hager, mit einer kräftigen Nase und einem blau funkelnden Auge. Vor dem anderen Auge befand sich irgendein Gerät, das mit einem Band am Kopf befestigt war und wie eine klappbare Lupe aussah.
Das Ding erinnerte Will an seine letzte Augenuntersuchung; der Optiker hatte damals ein ähnliches Gerät getragen. Dieser Apparat besaß jedoch eine milchig-trübe Linse, die ganz schwach orangegelb zu glühen schien. Sofort nahm Will an, dass das Auge irgendwie beschädigt sein müsste; doch dann bemerkte er, dass zwei Kabel an dem Gerät befestigt waren und hinter dem Kopf des Mannes verschwanden.
Das andere, unbedeckte Auge musterte die Jungen weiterhin mit einem durchdringenden Blick, der rasch von Will zu Chester und wieder zurücksprang.
»Ich habe nicht viel Geduld«, setzte der Mann an.
Will versuchte, sein Alter zu schätzen, kam aber zu keinem Ergebnis: Der Mann hätte ebenso gut dreißig wie fünfzig Jahre alt sein können. Außerdem verfügte er über eine derart imposante Gestalt, dass beide Jungen regelrecht eingeschüchtert waren.
»Ich heiße Drake. Und es zählt nicht zu meinen Gepflogenheiten, Ausgestoßene aufzusammeln«, sagte er und schwieg dann einen Moment. »Die menschlichen Wracks und vollkommen kaputten Typen … diejenigen, die gefoltert wurden oder einfach zu geschwächt sind, um noch lange durchzuhalten … erlöse ich manchmal von ihren Leiden.« Mit einem grimmigen Lächeln strich er mit der Hand über seinen Gürtel und ließ sie auf einer großen Messerscheide an seiner Hüfte ruhen. »Das ist das Beste, was ich für sie tun kann.«
Als hätte er seinen Standpunkt deutlich genug gemacht, nahm er die Hand vom Messer und fuhr dann fort: »Ich will klare Antworten. Wir haben euch verfolgt, und ihr seid ganz ohne Verstärkung unterwegs, stimmt’s?« Er musterte Will, der jedoch schwieg.
»He, du, Großer! Wie heißt du?«, wandte Drake sich an Chester, der unruhig von einem Fuß auf den anderen trat.
»Chester Rawls, Sir«, erwiderte der Junge mit zitternder Stimme.
»Du bist kein Kolonist, oder?«
»Äh … nein«, krächzte Chester.
»Übergrundler?«
»Ja.« Chester schaute zu Boden; er konnte dem eindringlichen Blick dieses kalten Auges nicht länger standhalten.
»Und wie bist du dann hier unten gelandet?«
»Ich wurde in die Verbannung geschickt.«
»Das passiert den Besten«, sagte Drake und wandte sich dann an Will. »He, du, der gern den Tapferen spielt! Name?«
»Will«, erwiderte er gleichmütig.
»Ich frage mich, wer oder was du wohl bist. Bei dir ist die Sache kniffliger. Du wirkst und bewegst dich wie ein typischer Kolonist, aber du hast auch etwas von einem Übergrundler an dir.«
Will nickte.
»Was dich zu einem ungewöhnlichen Fall macht«, fuhr Drake fort. »Du bist offenkundig kein Späher der Grenzer.«
»Der wer?« ,fragte Will.
»Ihr habt sie eben in Aktion gesehen.«
»Ich habe keine Ahnung, wer oder was die Grenzer sind«, murmelte Will patzig.
»Eine Spezialeinheit der Styx. In letzter Zeit wimmelt es hier von ihnen. Anscheinend gehören die Tiefen neuerdings zu ihrem Einsatzgebiet«, sagte Drake. »Du arbeitest also nicht für sie.«
»Nein, das tue ich verdammt noch mal nicht!«, erwiderte Will so nachdrücklich, dass sich Drakes Auge kurzfristig weitete, möglicherweise vor Überraschung. Er seufzte, verschränkte die Arme und rieb sich dann nachdenklich das Kinn.
»Hab ich mir gedacht.« Kopfschüttelnd musterte er Will. »Aber ich mag es nicht, wenn ich etwas nicht sofort verstehe. Dann neige ich zu überstürzten Handlungen … und entledige mich gern des Problems. Also, sag mir jetzt sofort, wer und was du bist!«
Will wusste, dass er dem Befehl des Mannes besser gehorchen sollte, und lieferte ihm eine Antwort: »Ich bin in
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