Tunnel - 02 - Abgrund
Produktion ausreichender Impfstoffmengen für die gesamte Bevölkerung Englands – mehrere Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.
Doch die wissenschaftlichen Probleme interessierten Mrs Burrows nicht im Geringsten; sie ärgerten vielmehr die Unannehmlichkeiten, die mit dem Virus verbunden waren. Entnervt ließ sie den Löffel in die Müslischale fallen und rieb sich zum x-ten Mal die Augen.
Noch am Abend zuvor war es ihr hervorragend gegangen, doch als die Glocke auf dem Gang sie am Morgen geweckt hatte, war ihr der neue Tag bereits wie die Hölle auf Erden erschienen: Sie hatte sofort das schmerzhafte Trockenheitsgefühl in den Nasennebenhöhlen und ihre vereiterte Zunge und Kehle bemerkt. Doch all das verblasste zur Bedeutungslosigkeit, als sie die Augen aufschlagen wollte und feststellen musste, dass diese so stark verklebt waren, dass jeder Versuch scheiterte. Nur mit viel warmem Wasser aus dem Waschbecken in ihrem Zimmer gelang es ihr, die Lider wenigstens minimal zu öffnen – begleitet von Flüchen, die jeden Kutscher hätten erröten lassen. Und obwohl Mrs Burrows ihre Augen sorgfältig gereinigt hatte, fühlten sie sich noch immer so an, als wären sie von einer dicken Kruste bedeckt.
Nun saß Mrs Burrows an ihrem Tisch im Speisesaal und stieß einen klagenden Seufzer aus. Das ständige Reiben schien die Sache nur noch zu verschlimmern. Während ihr die Tränen übers Gesicht strömten, schaufelte sie sich einen großen Löffel Cornflakes in den Mund und versuchte ein weiteres Mal, mit ihren blutunterlaufenen Augen die Radio Times zu lesen, die neben ihr auf dem Tisch lag. Es war die aktuellste Ausgabe, frisch am Morgen eingetroffen; Mrs Burrows hatte sie sich aus dem Aufenthaltsraum geschnappt, ehe sonst irgendjemand Gelegenheit gehabt hatte, sie in die Finger zu bekommen. Doch es war zwecklos: Sie konnte kaum die Überschriften auf den Seiten erkennen, ganz zu schweigen von den kleiner gedruckten Programmhinweisen.
»Was für ein verdammter Mist-Virus!«, stöhnte sie erneut. Für diese Morgenstunde war es im Speisesaal geradezu unheimlich still; normalerweise herrschte hier um diese Uhrzeit immer hektische Betriebsamkeit.
Frustriert biss Mrs Burrows die Zähne aufeinander, faltete ihre Serviette und tupfte sich mit einer Ecke vorsichtig die tränenden Augen. Dann schnäuzte sie sich geräuschvoll in die Serviette, um ihre Nase endlich freizubekommen, und versuchte erneut, einen Blick auf die Zeitschrift zu werfen.
»Witzlos, ich kann überhaupt nichts sehen. Fühlt sich an, als hätte ich Sand in den Augen!«, knurrte sie und stieß ihre Müslischale von sich.
Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich gegen die Stuhllehne und tastete nach ihrem Tee. Doch als sie die Tasse an die Lippen geführt und einen Schluck getrunken hatte, prustete und versprühte sie die Flüssigkeit in einem feinen Nebel über den Tisch – der Tee war eiskalt.
»Igitt! Das ist ja ekelhaft!«, quietschte sie. »Der Service in diesem Haus ist wirklich erbärmlich.« Wütend knallte sie die Tasse auf den Unterteller.
»Der gesamte Betrieb ist zum Erliegen gekommen«, beschwerte sie sich lautstark, obwohl sie genau wusste, dass ein Großteil des Personals nicht zur Arbeit erschienen war. »Man könnte fast meinen, dass wir uns in einem Krieg befinden.«
»Genauso ist es auch«, erwiderte eine distinguierte Stimme.
Mrs Burrows hob eines ihrer geschwollenen Augenlider, um nachzusehen, wer da gesprochen hatte. Ein paar Meter weiter saß ein Mann in einem Tweedjackett; er war etwa Mitte fünfzig und tauchte nun mit kleinen, bedächtigen Bewegungen ein gebuttertes Toaststäbchen in sein gekochtes Ei. Genau wie sie schien auch er seine eigene Gesellschaft der anderer Leute vorzuziehen, da er sich an dem kleinen Tisch im benachbarten Fenstererker niedergelassen hatte. Bis auf Mrs Burrows und diesen weiteren Frühstücksgast schien der Speisesaal wie ausgestorben. Die letzten Tage waren wirklich eigenartig verlaufen: Eine Notbesetzung an Personal hatte sich mit entzündeten, triefenden Augen bemüht, die Patienten zu versorgen, von denen die meisten ohnehin auf ihrem Zimmer geblieben waren.
»Hm«, sagte der Mann und nickte, als pflichtete er sich selbst bei.
»Wie bitte?«
»Ich habe gemeint, dass wir uns tatsächlich in einem Krieg befinden«, verkündete er und kaute auf einem Stück Toast. Nach allem, was Mrs Burrows erkennen konnte, hatte ihn der Virus so gut wie verschont.
»Wie kommen Sie auf diese Idee?«, fragte Mrs
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