Tunnel - 02 - Abgrund
Will und Chester waren mittlerweile völlig erschöpft und ausgesprochen dankbar für die Verschnaufpause. Die müden Muskeln ihrer Arme zitterten, als die beiden ihre Wasserbehälter ansetzten, um daraus zu trinken. Elliott wies Cal an, das Ersatz-Fernrohr hervorzuholen und Wache zu halten, und befahl Will, sein Sichtgerät zu benutzen.
Will klappte es über sein Auge und schaltete es ein. Nachdem sich das orangefarbene Schneegestöber gelichtet und zu einem stabilen Bild zusammengesetzt hatte, erkannte Will, dass sie sich nicht weit von der Küste befanden. Das Boot trieb auf etwas zu, das Will für eine Art Landzunge hielt, aber nicht klar erkennen konnte, auch nicht mithilfe des Sichtgeräts.
Während sie weitertrieben, strichen seidig glänzende Dunstfinger über die Wasseroberfläche. Nebelfetzen krochen auf sie zu und verdichteten sich schließlich zu dicken Schwaden, die über die Bordwände des Bootes zu fließen schienen. Die Strahlen der Lampe zu Chesters Füßen erzeugten ein diffuses Licht und verliehen dem Nebel eine milchige Transparenz, in der ihre Gesichter gespenstisch leuchteten. Wenig später konnten sie unterhalb ihrer Hüften kaum noch etwas von ihren eigenen Körpern erkennen. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich im mittlerweile unsichtbaren Boot einen Weg durch die Nebeldecke zu bahnen. Der Nebel schien alle Geräusche zu schlucken, sogar das Plätschern der Wellen.
Mit der Zeit wurde es wärmer, und sie hatten den Eindruck, als lege sich ein deutlich spürbarer Druck auf ihre Brust. Möglicherweise wurde diese Empfindung von der Undurchdringlichkeit des Nebels oder einem anderen Phänomen hervorgerufen, doch sie alle spürten, wie sie von einer Stimmung der Melancholie und einem Gefühl grenzenloser Einsamkeit erfasst wurden.
Schweigend trieben sie weiter dahin und gelangten dann in eine Art kleine Bucht. Die trostlose Stille wurde durchbrochen, als der Kiel des Bootes gegen Felsen schrammte und auf Grund lief. Es war sonderbar: Es schien, als wäre der dunkle Bann gebrochen und hätte sie allesamt aus einem schlechten Traum geweckt.
Ohne Zeit zu vergeuden, sprang Elliott aus dem Boot. Die Jungen hörten das Wasser aufspritzen, konnten aber nicht erkennen, wie tief es war, da der Nebel dem Mädchen bis knapp an die Hüfte reichte. Sie watete zum Bug des Boots, drehte ihn herum und zog ihn hinter sich her.
Will wandte seine Aufmerksamkeit der Küste zu und erkannte, dass sie tatsächlich in einer Bucht angelandet waren, die von zwei in das Meer hineinragenden Landzungen gerahmt wurde. Der Nebel waberte durch die Bucht, die von zahlreichen zerklüfteten Felsen durchzogen war. Will und die anderen rührten sich nicht von der Stelle, während Elliott das Boot ein kurzes Stück hinter sich herzog. Dann befahl sie ihnen, von Bord zu gehen, woraufhin einer nach dem anderen widerstrebend und mit geschultertem Gepäck aus dem Boot kletterte.
Da die Jungen nicht sehen konnten, wohin sie sprangen, war ihnen etwas mulmig zumute, aber dann stellten sie fest, dass das Wasser nicht tiefer als einen Meter sein konnte. Allerdings drohte eine starke Strömung, sie von den Füßen zu reißen. Vorsichtig wateten sie auf den felsigen Strand zu, um auf dem unebenen Boden nicht auszurutschen, während Elliott das Boot in einen kleinen Flusslauf schleppte, vermutlich, um es dort zu verstecken. Während Will und Chester durch das seichte Wasser platschten, hörten sie ein hohles, kratzendes Geräusch, als Elliott das Boot an Land zog.
»Sollten wir ihr nicht helfen? Sie …«, schlug Chester gerade vor, als sie eine abrupte Veränderung des Strands bemerkten. Das Geräusch des Bootes schien ein gedämpftes Grollen hervorzurufen, dessen Ursache sie aufgrund des dichten Nebelschleiers jedoch nicht erkennen konnten. Will und Chester hatten inzwischen fast das Ufer erreicht, und auch Cal, der etwa zwanzig Schritte vor ihnen über die Felsen kletterte, hatte bemerkt, dass sich irgendetwas anbahnte.
Alle drei blieben wie angewurzelt stehen, während das leise Grollen anhielt. Plötzlich schien um sie herum alles in Bewegung zu geraten, als ob die Felsen selbst zum Leben erwachten. Unmittelbar oberhalb des Nebelschleiers erschienen schlagartig Hunderte kleiner Lichter, die wie Kerzen flackerten.
»Augen!«, stammelte Chester. »Das sind Augen!«
Er hatte recht. Die Augen fingen das Licht von Chesters und Cals Lampen auf und reflektierten es wie Katzenaugen auf einer Straße. Durch sein Sichtgerät konnte Will
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