Tunnel - 02 - Abgrund
Boden. »Wenn du diese ganzen Bücher nur gelesen und dich mit normalen Dingen beschäftigt hättest – statt wie ein Bekloppter in Tunneln herumzubuddeln –, würden wir vielleicht nicht in diesem Schlamassel stecken. Du bist … du bist einfach komplett durchgeknallt!«
»Ich wollte doch nur … die Echsen … ich …«, setzte Will an, doch vor Empörung versagte ihm die Stimme.
»Ach, halt doch einfach die Klappe! Du kriegst es einfach nicht in deinen dicken Schädel, dass sich außer dir niemand für deine dämlichen Fossilien oder Tiere interessiert! Die Biester sind allesamt total widerlich und sollten zerquetscht werden wie Insekten«, bölkte Chester.
»Ich wollte dich nicht kränken, Chester«, sagte Will entschuldigend.
»Mich kränken?« ,schrie Chester hysterisch. »Du hast mir etwas viel Schlimmeres angetan. Ich habe die Schnauze voll von alldem hier. Und vor allem kann ich deinen Anblick nicht mehr ertragen!«
»Ich hab doch schon gesagt, wie leid es mir tut«, erwiderte Will matt.
Wütend riss Chester die Hände in die Höhe. »Ach, so einfach ist das also? Glaubst du wirklich, du könntest dich mit einem ›Tut mir leid‹ aus der Sache rauswinden und damit wäre alles erledigt? Ich soll dir wohl alles verzeihen, was?« Er warf Will einen derart verächtlichen Blick zu, dass es diesem die Sprache verschlug. »Mit ein paar billigen Worten ist es nicht getan«, sagte Chester mit leiser, zitternder Stimme. Dann stolzierte er davon.
Chesters Worte erschütterten Will zutiefst. Er hatte so sehr gehofft, ihre Freundschaft stünde wieder auf sicheren Beinen. Doch jetzt erkannte er, dass ihre scherzhaften Wortwechsel am Strand und im Boot überhaupt nichts zu bedeuten hatten. Er hatte sich einer Illusion hingegeben. Mit einem Schlag kehrte sein Schuldgefühl zurück und nahm ihm schier den Atem: Er hatte Chester seinen Eltern und seinem Leben in Highfield entrissen und ihn in diese albtraumartige Lage gebracht, die sich von Sekunde zu Sekunde verschlimmerte.
Will fühlte sich miserabel. Er hätte alles gegeben für ein heißes Bad und ein sauberes Bett mit frischen weißen Laken – er hatte das Gefühl, als könnte er dann einen Monat lang durchschlafen. Er sah sich nach Cal um, der ein kleines Stück vor ihm lief, und erkannte, dass sein Bruder sich bei jedem Schritt schwer auf den Stock stützte und sein Gang unbeholfen wirkte, als würde ihn sein Bein jeden Moment im Stich lassen.
Nein, keiner von ihnen war in guter Verfassung. Will hoffte, dass sie bald Gelegenheit zu einer Rast bekommen würden. Aber er machte sich keine Illusionen – eine Pause konnte er wohl vergessen, zumindest solange ihnen die Grenzer auf den Fersen waren.
An der Höhlenwand versammelten sie sich um Elliott. Das Mädchen stand vor einer Felsspalte, einem mehrere Meter hohen Schlitz am Sockel der Wand, aus dem in einem nicht enden wollenden Strom Nebel hervorquoll. Will hielt Abstand von Chester und tat so, als widmete er seine ganze Aufmerksamkeit dem Spalt – obwohl der dichte Nebel verhinderte, dass er allzu viel davon zu sehen bekam oder gar abschätzen konnte, wie breit er war.
»Wir haben noch einen weiten Weg vor uns«, sagte Elliott warnend, während sie ein Seil abwickelte, das sich alle um die Hüften schlangen. Sie würde die Gruppe anführen, dann folgten Cal, Chester und schließlich Will. »Dass mir ja keiner abhaut«, schärfte sie ihnen ein. Dann hielt sie kurz inne und schaute erst Will und anschließend Chester an.
»Alles okay mit euch beiden?«
Sie hat den Streit mitbekommen … sie muss alles gehört haben, was Chester gesagt hat, dachte Will unangenehm berührt.
»Denn das hier wird nicht gerade leicht werden, und wir müssen alle zusammenhalten«, fuhr Elliott fort.
Will grunzte etwas, das einem »Ja« ähnelte, während Chester keine Antwort gab und Wills Blick bewusst auswich.
»Und jetzt zu dir«, wandte Elliott sich an Cal, »ich muss wissen, ob … du das hier schaffst?«
»Ich krieg das schon hin«, erwiderte der Junge und nickte zuversichtlich.
»Das will ich auch schwer hoffen«, sagte sie, drehte sich noch einmal um und warf ihnen einen letzten Blick zu, ehe sie in die Felsspalte abtauchte. »Wir sehen uns dann auf der anderen Seite.«
TEIL FÜNF
D ER T RICHTER
44
»Bemerkenswert!«, rief Dr. Burrows. Seine Stimme hallte scheinbar endlos von den Wänden wider, bis sie schließlich doch erstarb und nur noch das Plätschern des Wassers zu hören war, das in kurzen Schauern
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