Tunnel - 02 - Abgrund
Wort.
»Du hast ihn drangekriegt! Du hast ihn zur Strecke gebracht! Du hast einen Grenzer erledigt!«, plapperte Chester aufgeregt und lachte. Sein geschwollenes Gesicht ließ seine Worte undeutlich und unartikuliert klingen. »Hast ihn voll erwischt! Genau ins Schwarze! Geschieht ihm recht! Hahahaha!«
»Um Himmels willen, halt die Klappe, Chester«, knurrte Will. In dem Moment begann Cal zu würgen und übergab sich heftig. Er weinte und murmelte irgendetwas über den Grenzer.
»Schon gut, schon gut«, sagte Will und hielt ihn fest im Arm. »Es ist vorbei.«
Sekundenbruchteile später stürmte Elliott herbei.
»Herrgott noch mal! Könnt ihr vielleicht noch mehr Lärm machen?«
Als sie den toten Grenzer sah, nickte sie kurz anerkennend. Dann schaute sie zu den Jungen hinüber: Unter dem Einfluss des Adrenalins hüpfte Chester noch immer von einem Bein auf das andere, während Will und Cal fix und fertig aussahen.
Elliott warf einen prüfenden Blick in die Glassäulen.
»Die Weißkragen sind doch näher, als ich dachte.«
»Das kann man wohl sagen«, brummte Will.
Das Mädchen drehte sich zu Chester um, der sich mittlerweile mit einem Tuch die Nase zudrückte, um das herausströmende Blut einzudämmen. »Du hast ihn erschossen. Gute Arbeit«, sagte Elliott lächelnd.
»Äh … ich … nein …«, stammelte Chester. »Ich konnte nicht …«
»Cal hat ihn erschossen«, fiel Will ihm ins Wort.
»Aber du hattest doch das Gewehr?«, wandte Elliott sich erneut an Chester. Sie wirkte verblüfft und ein wenig enttäuscht. Chester schwieg und warf Will einen finsteren, mürrischen Blick zu.
»Okay, steht auf. Wir müssen los … sofort. Jemand verletzt?«, fragte Elliott.
»Mein Kinn … meine Nase …«, setzte Chester an.
»Cal braucht ein paar Minuten. Schau ihn dir an«, unterbrach Will ihn eindringlich und lehnte sich zurück, damit Elliott den starren, unkoordinierten Blick seines Bruders sehen konnte.
»Keine Chance. Nicht nach dem ganzen Radau«, sagte sie.
»Kann er denn nicht …?«, bat Will inständig.
»Nein«, knurrte sie. »Hört mal genau hin!«
Die Jungen folgten ihrer Aufforderung. In der Ferne hörten sie Gebell, doch es ließ sich unmöglich sagen, wie weit es entfernt war.
»Spürhunde!«, stieß Will hervor und sofort sträubten sich ihm die Nackenhaare.
»Ja, eine ganze Meute«, bestätigte Elliott. Dann schenkte sie den Jungen ein kleines Lächeln. »Es gibt da übrigens noch einen Grund, warum jetzt ein guter Moment wäre, schleunigst hier zu verschwinden«, sagte sie.
»Und der wäre?«, fragte Will schnell.
»Ich habe in unserem Proviantlager eine Lunte gezündet. In sechzig Sekunden fliegt alles in die Luft.«
Diese letzte Information riss Cal glücklicherweise aus seiner Teilnahmslosigkeit. Elliott schnappte sich im Vorbeigehen noch das Gewehr des toten Grenzers, und dann rannten sie wie der Teufel davon. Will blieb dicht bei Cal, der sich mit seinem verletzten Bein alle Mühe gab hinterherzukommen. Erst als Bartleby zu ihnen aufschloss, rannte der Junge so schnell wie alle anderen auch.
Plötzlich ertönte eine Salve von Schüssen, die wie explodierende Feuerwerkskörper klang. Ein Hagel aus Blei durchsiebte die Säulen um sie herum und ließ tellergroße Bruchstücke durch die Luft wirbeln. Instinktiv duckte Will sich und wurde langsamer.
»Nein! Nicht stehen bleiben!«, schrie Elliott ihm zu.
Querschläger prallten mit einem jaulenden Geräusch von den Glasflächen ab, während sie weiterrannten. Will spürte, dass in Wadenhöhe irgendetwas an seinen Hosenbeinen zerrte, doch er konnte auf keinen Fall innehalten, um nach der Ursache zu sehen.
»Macht euch bereit!«, rief Elliott durch den Kugelhagel hindurch.
Dann geschah es.
Die Explosion war gewaltig. Ein gleißendes Licht blitzte um sie herum auf, von den spiegelnden Oberflächen in Tausende Richtungen reflektiert. Und der Nachhall der Explosion war kaum verklungen, als ein gewaltiger Einsturz folgte.
Berstende Säulen brachen zusammen und fielen gegeneinander wie Dominosteine. Ein riesiger Brocken einer zertrümmerten Säule schlug direkt hinter den Jungen auf und entfachte einen gewaltigen Sturm aus pulverisiertem Glas, das im Lichtschein ihrer Lampen funkelte wie schwarze Diamanten. Der Staub drang in ihre Kehlen und brannte ihnen in den Augen. Bei jedem Aufschlag bebte der Boden unter ihren Füßen. Eine Säule nach der nächsten stürzte um und erzeugte dabei jedes Mal einen Windzug, der ihnen aus den
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