Tunnel - 02 - Abgrund
dieser ausholte.
»STIRB! STIRB, DU BASTARD! STIRB!«, tobte Chester, während er noch mehr Kraft in seine Schläge legte und mit beiden Fäusten auf das Gesicht des Grenzers eintrommelte.
Hätte Chester zufällig einen flüchtigen Blick auf sein Spiegelbild an der Säule neben sich geworfen, er hätte sich nicht wiedererkannt: Sein Gesicht war wutverzerrt, mit einem wild entschlossenen, irrsinnigen Ausdruck in den Augen. Nie im Leben hätte Chester sich vorstellen können, jemals so brutal und gewalttätig zu werden. Der ganze Groll, die ganze Wut darüber, wie er in der Kolonie behandelt worden war, hatte plötzlich ein Ventil gefunden. Er hämmerte weiter auf den Soldaten ein.
»TÖTET IHN!«, schrie Cal von den Beinen des Grenzers nach oben.
Mit eiserner Entschlossenheit setzten die Jungen ihre Bemühungen fort: Sie mussten den Soldaten unschädlich machen – mit allen erforderlichen Mitteln! Es schien, als versuchten sie, einen Tiger zu bändigen, einen angeschlagenen, aber nichtsdestoweniger mörderischen Tiger. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als weiterzukämpfen. Sie durften ihn nicht loslassen! Es war ein Kampf auf Leben und Tod – entweder er oder sie!
Jetzt schrie der Grenzer auf, riss sein Knie hoch und drängte Cal gerade so weit zurück, dass er ein Bein freibekam. Ruckartig zog er es hoch und trat Cal mit der Hacke hart in den Magen. Der Tritt raubte Cal den Atem und ließ ihn der Länge nach über das gläserne Geröll schlittern. Nach Luft ringend krümmte er sich und versuchte, wieder zu Atem zu kommen.
Der Grenzer schwang die Beine und bäumte sich mit solcher Wucht auf, dass es Chester unmöglich war, ihn weiter auf den Boden zu drücken. Während Chester sich noch wehrte, landete der Grenzer einen vernichtenden Schlag gegen seinen Kopf. Benommen sank der Junge zu Boden.
Da nun sowohl Cal als auch Chester außer Gefecht gesetzt waren, blieb nur noch Will übrig. Der Grenzer bekam den Jungen am Hals zu packen und grub ihm die Finger tief in die Haut, um ihm die Luft abzuschnüren. Triumphierend murmelte er etwas in der Sprache der Styx vor sich hin und verstärkte seinen Würgegriff.
Will hatte sich bereits mit seiner bitteren und schmerzhaften Niederlage abgefunden, als der Grenzer den Griff um seine Kehle lockerte. Während Will röchelnd nach Luft schnappte, keimte in ihm die Hoffnung auf, es könnte sich etwas geändert haben, möglicherweise zum Guten. Doch er hätte sich nicht stärker täuschen können.
Plötzlich ertönte ein Schnalzen, als hätte der Grenzer mit den Fingern geschnippt, und wie aus dem Nichts tauchte in seiner freien Hand eine zweite Sichel auf. Die scharfe Klinge blitzte im Licht der Lampe auf, während der Grenzer mit einer einzigen, fließenden Bewegung seinen Griff um die Waffe veränderte.
Will drehte den Kopf ein paar Zentimeter, um herauszufinden, was passierte und ob Chester oder Cal nahe genug waren, um einzugreifen. Aber von ihnen war keine Spur zu sehen.
»Nein!«, schrie er entsetzt auf, als sein Blick auf die Sichel fiel. Verzweifelt biss Will die Zähne zusammen; er hatte alle Hoffnung fahren lassen und wartete darauf, dass die Waffe ihr Ziel finden würde.
Im nächsten Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall.
Die Kugel zischte so dicht an Will vorbei, dass er ihre Hitze auf der Haut spürte. Die erhobene Hand des Grenzers schien eine halbe Ewigkeit in der Luft zu schweben, doch tatsächlich dauerte es nur Sekundenbruchteile, bis sie sich öffnete und ihr die Sichel entglitt.
Während das Geräusch des Schusses ihm noch in den Ohren nachhallte, rührte Will sich nicht von der Stelle, völlig benommen und verwirrt. Obwohl er den Soldaten nicht direkt anschaute, konnte er genug erkennen, um sofort zu wissen, dass der Mann sich in einem grässlichen Zustand befand. Hals über Kopf kroch er von dem Grenzer weg und rappelte sich auf, während er in einer Mischung aus Entsetzen und Ekel nach Luft rang.
Dann hielt er inne und drehte sich um. Cal stand mit Chesters Gewehr in der Hand da und starrte auf den Toten.
»Ich hab ihn erwischt« sagte er leise, ohne dabei das Gewehr oder den Blick zu senken.
»Ist schon gut, Cal. Alles wird gut«, redete Will beruhigend auf seinen Bruder ein, nahm ihm das Gewehr aus den verkrampften Händen und gab es Chester. Dann legte er Cal den Arm um die Schultern und führte ihn langsam vom Anblick des toten Grenzers weg. Als Will ihn aufforderte, sich einen Augenblick zu setzen, gehorchte der Junge ohne ein
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